In der Nacht von Freitag auf Samstag gingen in den großen ägyptischen Städten erstmals seit einigen Jahren wieder tausende Menschen gegen das Regime auf die Straße. Das Regime reagierte mit dutzenden Verhaftungen. In Alexandria soll ein Demonstrant getötet worden sein.

Proteste gegen Korruption und Regime

Begonnen hat die jüngste Protestwelle mit einer Serie von Videos eines mittlerweile in Spanien lebenden ägyptischen Bauunternehmers, der der ägyptischen Armee Korruption vorwarf und dafür auch glaubhafte Belege aus eigener Erfahrung vorbrachte. Die Videos gingen in Ägypten viral. Nach dem Freitagsgebet am 20. September gingen nun tausende in Kairo und Alexandria auf die Straßen.
Videos von den Demonstrationen zeigen, dass es dabei nicht nur um die Korruption der Armee geht, sondern um weit mehr. Die Demonstranten (meist junge Männer) riefen Parolen gegen das Regime, darunter jene, die von der Revolution von 2011 bekannt sind. Al-Sisis Militärregime, das vor allem von Saudi-Arabien gestützt wird, allerdings auch vielen europäischen Regierungen in den letzten Jahren als Stabilitätsgarantie erschien, steht damit der größten Protestwelle, seit der Niederschlagung der Proteste gegen den Militärputsch 2013 gegenüber.

Die Parolen von 2011 am Midan Tahrir sind längst übermalt.
Thomas Schmidinger

Die Parolen der Revolution am Midan Tahrir wurden 2013 nach dem Militärputsch gegen die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mohammed Mursi schnell übermalt. Der heuer im Juni in Haft verstorbene Muslimbruder, der zwar selbst autoritäre Tendenzen an den Tag legte, dann aber eben nicht von einer Protestbewegung, sondern von einem Militärputsch aus dem Amt gedrängt wurde, hatte das Land gerade ein Jahr regiert. Nach wochenlangen Massenprotesten war der Präsident am 3. Juli 2013 durch einen Putsch unter Abd al-Fattah as-Sisi abgelöst worden, der in der Folge nicht nur die Muslimbrüder, sondern jegliche Opposition brutal unterdrücken ließ. Seither "verschwinden" AktivistInnen genauso, wie kritische JournalistInnen oder Intellektuelle. Gewaltfreie AktivistInnen wurden auch in den letzten Monaten reihenweise zum Tod verurteilt. Todesurteile wurden dabei teilweise in Massenprozessen gefällt und schließlich auch vollstreckt.

Kurz als Eisbrecher für Europa

Trotzdem spielte der damalige Außenminister und heutige Altkanzler Sebastian Kurz eine wichtige Rolle bei der Normalisierung des Verhältnisses der EU zu Ägypten. Kurz spielte bereits im Mai 2015 mit seinem Staatsbesuch in Ägypten den Eisbrecher für weitere europäische Regierungen, die mit dem Militärregime zunehmend engere Beziehungen knüpften. Schließlich wollte man das Land für die Flüchtlingsabwehr benutzen und hierfür schien das autoritäre Regime bestens gewappnet zu sein.

Die Menschenrechtsverletzungen des Regimes spielten für Kurz damals keine Rolle. Kurz lobte al-Sisis Vorgehen gegen die Muslimbrüder und erklärte am Rande seines Staatsbesuches im Mai 2015: "Wir brauchen ein gutes Miteinander der Religionen hier in der Region, das Zusammenleben der Kopten und der Muslime ist hier im Gegensatz zu vielen anderen Ländern vorbildlich." Kritik an der Akzeptanz eines Regimes, das zuvor nur durch brutale Menschenrechtsverletzungen aufgefallen war, tat der damalige Außenminister und heutige ÖVP-Obmann mit den Worten ab,  al-Sisi wäre "nicht perfekt, aber was ist unsere Alternative?"

Vorbild Sudan?

Dass nun die Untertanen al-Sisis wieder den Mut finden auf die Straße zu gehen, hat vielleicht auch mit den Entwicklungen im südlichen Nachbarland Sudan zu tun, zu dem Ägypten traditionell enge Beziehungen unterhält.

Nach monatelangen Protesten, die zwischenzeitlich vom Militärischen Übergangsrat blutig unterdrückt wurden, gelang es Opposition und Militärregime im Sudan, sich im August auf eine zivile Übergangsregierung zu einigen. Die neue Regierung unter dem Ökonomen Abdalla Hamdok repräsentiert erstmals unterschiedliche Fraktionen der politischen Landschaft des Sudan und stellt den personifizierten Kompromiss zwischen den Militärs und der Opposition dar.

Die sudanesische Opposition, in der Frauen und Gewerkschaften eine sehr wichtige Rolle spielen, hat vieles aus den gescheiterten Revolutionen in Ägypten, Syrien, Jemen, Bahrain oder Libyen gelernt: Sie hat von Anfang an auf gewaltlose Proteste und Streiks gesetzt und eine Militarisierung konsequent vermieden und sie hat den Militärs von Anfang an misstraut und auch nach dem Sturz al-Bashirs weiter für eine echte Übergangsregierung gekämpft.

Der Übergang zu einem demokratischen System steckt damit noch immer in seinen Kinderschuhen. Gerade die Tatsache, dass Saudi-Arabien und Ägypten in den letzten Monaten mehrmals versucht hatten, die Demokratisierung im Sudan zu torpedieren, zeigt allerdings, wie sehr genau so eine Entwicklung als Gefahr wahrgenommen wird.

Der Kampf geht weiter

Gelänge es im Sudan wirklich ein inklusives demokratisches System aufzubauen, hätte dies Vorbildwirkung, nicht nur auf Ägypten. Der Kampf um Demokratie und soziale Rechte in Nordafrika und im Nahen Osten, der 2011 seine ersten Erfolge hatte, wurde zwar mit der Konterrevolution in Ägypten, der Niederschlagung der Proteste in Bahrain und den Bürgerkriegen in Syrien, Libyen und im Jemen verzögert. Eine Rückkehr zur alten "Stabilität" wird es allerdings nicht geben. Saudi-Arabien ist durch den Krieg im Jemen in eine zunehmende Krise geschlittert. Die Rückeroberung Syriens durch das Regime ist von der Unterstützung durch den Iran und Russland abhängig und keiner der autoritären Lokalherrscher in Libyen konnte bislang das Land wirklich unter Kontrolle bringen. Die erfolgreichen und gewaltfreien Massenproteste in Algerien, die heuer den Rücktritt des greisen Langzeitpräsidenten Abd al-Aziz Bouteflika erzwangen und die erfolgreiche Revolution im Sudan zeigen, dass die Kämpfe um Demokratie und soziale Rechte in der Region auch in den nächsten Jahren weiter gehen werden - und möglicherweise auch Erfolg haben können. (Thomas Schmidinger, 23.9.2019)

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