Unter der autoritären Regentschaft von Präsident Abdelfattah al-Sisi herrschte in Ägypten zuletzt vor allem eines: eine Mauer der Angst. Kaum jemand hätte daher für möglich gehalten, dass Parolen wie "Das Volk will den Sturz des Regimes" oder "Verschwinde Sisi" dieser Tage durch Ägyptens Straßen hallen könnten. Doch genau das ist am Wochenende passiert. In mehreren Städten im Land versammelten sich am Freitag jeweils einige Hundert Demonstranten und skandierten lauthals Parolen gegen Sisi, der seit 2013 in Ägypten an der Macht ist.

Protestzüge formierten sich im Stadtteil Agouza in Kairos Schwesterstadt Gizeh sowie in Shubra im Norden der Hauptstadt, während einige Hundert Menschen sogar kurzzeitig über den symbolträchtigen Tahrir-Platz in Kairos Innenstadt zogen, bevor sie von uniformierten und in Zivil gekleideten Sicherheitskräften verjagt wurden.

Proteste in mehreren Städten Ägyptens.
Foto: REUTERS_Abdallah Dalsh

In sozialen Netzwerken veröffentliche Videos zeigen gepanzerte Fahrzeuge der Bereitschaftspolizei, die nahe dem Tahrir-Platz und dem ägyptischen Museum weglaufenden Demonstranten nachsetzen, während Polizeibeamte Tränengasgranaten abfeuern.

Weitere Demonstrationen wurden aus den Mittelmeerstädten Alexandria und Damietta sowie Mahalla und Mansoura im Nildelta gemeldet. Besonders großen Zulauf erhielten die Demonstrationen in der Industriestadt Suez. Hier gingen die Proteste auch am Samstag weiter. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften.

DW News

Zahlreiche Festnahmen

Hunderte Personen wurden festgenommen. Die ägyptische Menschenrechtsorganisation ECESR konnte landesweit 166 Festnahmen bestätigen. Die unabhängige ägyptische Internetzeitung Mada Masr spricht mit Verweis auf Anwälte und Menschenrechtsgruppen von mehr als 100 Festnahmen in Suez, bis zu 100 in Alexandria und 200 bis 300 im Großraum Kairo.

Angeblich in Mansoura und Damietta aufgenommene Videos zeigen derweil, wie Demonstranten überdimensionale Banner mit Sisis Konterfei herunterreißen, ein anderes, wie eine Menge auf einem solchen Plakat herumtrampelt.

Derlei Aufnahmen aus Ägypten sind mehr als ungewöhnlich, hat Sisi doch mittels systematischer Einschüchterung und Repression ein Regime installiert, gegen das sich weder die Bevölkerung noch die Opposition in den vergangenen Jahren öffentlich aufzulehnen getraut haben.

Sisis beispiellose Repressionsmaschinerie stellt dabei selbst das 2011 gestürzte Regime von Ägyptens Ex-Diktator Hosni Mubarak in den Schatten. Demonstrationen sind seit 2013 de facto verboten und wurden seither konsequent gewaltsam niedergeschlagen.

Die Polizei marschierte mit schweren Geschützen auf.
Foto: REUTERS_Abd El Ghany

Oppositionelle und Aktivisten werden immer wieder selbst bei nur verhaltener Regimekritik aufgrund fadenscheiniger Beschuldigungen verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In Polizeigewahrsam drohen Folter und Misshandlung. Entsprechend überraschend ist, dass am Freitag derart viele Menschen gegen Sisi auf die Straße zogen.

Auslöser der Proteste waren dubiose Stellungnahmen des in Spanien verweilenden ägyptischen Bauunternehmers Mohamed Ali, der seit Anfang September mehrere Videos ins Internet gestellt hatte, in denen er Sisi und der Armee Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder vorwirft. Ali behauptet darin, seine Baufirma, die seit 15 Jahren für Ägyptens Militär als Subunternehmen arbeite, habe im Auftrag der ägyptischen Streitkräfte Luxushotels, Villen und Präsidentenpaläste errichtet und sei dafür nicht bezahlt worden. In einem Video forderte er die Armeeführung gar auf, Sisi verhaften zu lassen, und droht mit weiteren Protestaufrufen, sollte der Staatschef nicht von seinem Posten entfernt werden.

Verhaltene Reaktionen

Sisi bezeichnete Alis Vorwürfe vergangene Woche in einer Ansprache als "Verleumdung", während in den vergangenen Tagen weitere Videos angeblicher ehemaliger Armeeoffiziere auftauchten, in denen Sisi ebenfalls Korruption vorgeworfen wird.

Oppositionskräfte und Aktivisten, die bereits 2011 gegen das Regime auf die Straße gezogen waren, reagierten auf Alis Aufrufe und die Ereignisse am Wochenende betont verhalten. Sie wittern hinter dessen Kampagne den Versuch von durch Sisi ins Abseits gedrängten Regimefraktionen, den Frust der Bevölkerung über die sozioökonomische Schieflage und die grassierende Korruption zu instrumentalisieren, um Sisi unter Druck zu setzen.

Sisi wird vorgeworfen, in den vergangenen Jahren politische und wirtschaftliche Privilegien in den Händen einer kleinen Elite konzentriert und damit private Unternehmer und Teile des Sicherheitsapparates ihrer Pfründe beraubt zu haben. Genau sie könnten derzeit versuchen, Sisi mit einer sehr riskanten Strategie zu Zugeständnissen zu bewegen. (Sofian Philip Naceur, 23.9.2019)