SOS Mitmensch organisiert informelle Wahlen für Menschen ohne österreichischen Pass.

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Formal hat SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner natürlich recht: Unsere zuletzt wegen ihrer Schönheit gelobte Bundesverfassung lässt es nicht zu, dass Ausländer, die ihren ständigen Wohnsitz in Österreich haben, an österreichischen Wahlen teilnehmen. Und das ist gut so, meint der Verfassungsgerichtshof. Und das meint auch die SP-Chefin – im Gegensatz zu ihrem Parteifreund Max Lercher, der im STANDARD-Livetalk das Wahlrecht für lange hier lebende Ausländer zumindest auf kommunaler Ebene gefordert hat.

Rendi-Wagner steht damit aber nicht nur im Gegensatz zu einem Funktionär der zweiten Reihe, sie steht vor allem im Gegensatz zur Tradition ihrer eigenen Partei. Beim Gründungsparteitag am 5. April 1874 im damals noch "ausländischen", weil zur etwas liberaleren ungarischen Reichshälfte gehörenden Neudörfl stand die Forderung nach dem Wahlrecht für die damals von demokratischer Teilnahme ausgeschlossenen Arbeiter im Mittelpunkt.

Und in der "Resolution über die politischen Rechte" des Hainfelder Einigungsparteitags von 1888/89 wird als eine der angestrebten Freiheiten genannt: "die Aufhebung des Monopols der Besitzenden auf das politische Wahlrecht ... als eines der wichtigsten Mittel der Agitation und Organisation, ohne sich jedoch über den Wert des Parlamentarismus irgendwie zu täuschen".

Steuerlich bedingte Vorrechte

130 Jahre später ist sich die SPÖ des Wertes des Parlamentarismus sehr wohl bewusst geworden – ihrem seinerzeitigen Anspruch, den arbeitenden Massen den Zugang zu freien und gleichen Wahlen zu ermöglichen, mag sie aber nicht mehr gerecht werden.

Das muss man unter aktuellen wahltaktischen Überlegungen verstehen: Rendi-Wagner weiß sehr wohl darum, dass es nicht klug wäre, mehr als einer Million Menschen volle demokratische Mitbestimmung zu geben – da hätten diejenigen, die derzeit das Wahlrecht haben, wohl etwas dagegen. Das hatten allerdings diejenigen, die 1889 vom Wahlrecht bevorzugt worden sind, auch: Das liberale Demokratieverständnis des liberalen Bürgertums endete damals dort, wo seine durch höhere Steuerleistung bedingten Vorrechte gefährdet waren.

Und es sagt ja auch niemand – außer dem freiheitlichen Polemiker Herbert Kickl, der genau das formuliert hat -, dass eine Liberalisierung des Wahlrechts dazu führen würde, dass jeder zufällig im Land befindliche Tourist über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden darf.

Abwägungssache nach Zeit

Wohl aber stünde es der SPÖ gut an, sich in ihrer altehrwürdigen Tradition der Benachteiligten unserer Gesellschaft anzunehmen. Und das sind nun einmal die Zugewanderten, die einen beachtlichen Teil jener Arbeiterschaft stellen, deren derzeit wahlberechtigter Teil mehrheitlich freiheitlich wählt.

Wenn die SPÖ wieder Arbeiterpartei sein will, wird sie nicht umhinkönnen, sich der noch nicht eingebürgerten Zuwanderer anzunehmen. Dass es hier abzuwägen gilt, wie viel an Staatsbürgerrechten einem Ausländer nach welcher Zeit sinnvollerweise zugestanden werden kann, ist klar.

Klar ist auch, dass es dazu einer Verfassungsänderung bedarf. Aber schließlich wurde die Dezemberverfassung von 1867 mit ihrem Kurienwahlrecht auch eines späteren Tages, mit dem allgemeinen Wahlrecht 1919, überwunden. Damit wurde eine Vision wahr. Ganz falsch dürfte es also nicht sein, Visionen zu entwerfen, "was wir ersehnen von der Zukunft Fernen", wie es in einem Arbeiterlied heißt. (Conrad Seidl, 23.9.2019)