Lange bevor die tatmotivierende Rolle des identitären Mythos vom "großen Austausch" im antimuslimischen Rechtsterror diskutiert wurde, hat das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) die 2012 von ehemaligen Neonazis gegründeten Identitären nicht nur als rechtsextrem, sondern auch als neofaschistisch bezeichnet. Dies, weil sie sich offen auf die Vordenker und Chefideologen des historischen Faschismus wie Julius Evola oder Arthur Möller van den Bruck berufen. Weil sie Neofaschisten wie den japanischen Putschisten Yukio Mishima zu ihren Idolen zählen und mit anderen neofaschistischen Gruppen wie Casa Pound kooperieren. Weil sie sich in Camps paramilitärisch formieren und einen regelrechten Kult der Gewalt, die als "Notwehr" legitimiert wird, betreiben.

Auch mit Umberto Eco ließen sich genügend Belege erbringen, um die Identitären dem Neofaschismus zuordnen zu können. Er hielt 1995 bei einer Befreiungsfeier an der Universität von Columbia eine Rede über den "immerwährenden Faschismus". Damit ist nicht gemeint, dass der Faschismus ewig ist. Vielmehr wollte Eco einen "Ur-Faschismus“ herausarbeiten, der sich in allen historischen, aktuellen und künftige Formen konkretisiere. Dieser ist durch 14 Merkmale geprägt, wobei es genügt, dass eines von ihnen präsent ist – es bildet den "Kristallisationspunkt", um den herum sich der Faschismus bilden kann. Viele jener Merkmale, die vorhanden sein müssen, um eine Bewegung als faschistisch zu charakterisieren, lassen sich auch bei den Identitären finden.

"Kult der Überlieferung"

Als erstes Merkmal nennt Eco den "Kult der Überlieferung" – der den ideologischen Kern der Identitären darstellt: Ob jene 300 Spartaner, die sich für das Ganze, das schon damals das Falsche war, opferten und sich 480 v.u.Z. einer persischen Übermacht entgegenstellten. Oder Karl Martell und Prinz Eugen und all die anderen Abendlandretter: Es sind regelrechte Mythen wie jener Europas und seiner immerwährenden Bedrohung, die auch die Identitären mobilisieren. Solche Mythen können zwar einen realen (historischen) Kern haben, sie stehen aber gänzlich im Dienste der Derealisation. Ihre antiaufklärerische Wirkkraft entfalten Mythen in und mit der Masse, die an sie glaubt. Diese massenbildende Funktion des Mythos wird von extremen Rechten offen eingeräumt. Der identitäre Kader Philipp Huemer von der Plattform "Gedenken 1683" etwa bekannte sich im Vorfeld des heurigen Aufmarsches im Fackelschein dazu, "den Mythos […] neu beleben" zu wollen. Der gemeinschaftliche Glaube an die Bedrohung müsse wieder zum "Kompass" werden – er zeigt den Paranoiden, von wem sie sich verfolgt fühlen sollen. Die Kundgebung im Andenken an die Rettung Wiens vor den "Türken" dient auch als „konkret erlebbare[s] gemeinschaftliche[s] Ereignis[.], an dem jeder Einzelne teilnehmen und sich dadurch aufrichten kann.“ Insbesondere die geschürte Angst vorm Untergang treibt in die Masse, wo sie aber weiter vergrößert wird. Weil jene, die von Bunker- und Bollwerkmentalität beherrscht werden, zudem Angst davor haben, ihren Wahn alleine zu glauben, sind sie fest an die Glaubensgemeinschaft gebunden.

Die identitäre Anrufung der Ahnen, die sich dem Ansturm der "Türken" entgegenstellten, stellt auch eine Deckerzählung dar. Manchmal bricht jedoch die alte Erzählung von den Recken der Waffen-SS als Kämpfer für ein "freies Europa" durch. Etwa bei Martin Sellner, der im September 2017 am Kahlenberg mit dem obligaten Pathos von den Türkenkriegern und anderen "Helden" schwadronierte – um im Eifer der Rede erst recht wieder bei den kämpfenden "Großvätern und Urgroßvätern" zu landen.

Gegen die moderne Welt

Als zweites Merkmal nennt Eco die "Ablehnung der Moderne", die von den Identitären mit "Dekadenz" identifiziert wird. Das ersehnte "goldene Zeitalter", die Sehnsucht nach nationaler oder kultureller "Neugeburt" treibt auch die Identitären an. Die Ablehnung gilt nach Eco vor allem dem „Geist von 1789“. Es ist das bürgerliche und bis heute nicht voll eingelöste Gleichheitsversprechen, gegen welches der Faschismus anrennt. "Good Night Gleichheit!" steht dementsprechend auf einem der ersten Sticker, den die Identitären produzierten. Und dass – wie ihr Lehrmeister van den Bruck dozierte – die "Völker […] am Liberalismus zu Grunde" gehen würden, betonen sie bei jeder Gelegenheit.

Weiter ist der "Ur-Faschismus" durch einen spezifischen "Irrationalismus" geprägt. Dies meint nicht, dass alles an ihm irrational wäre. Vielmehr haben wir es hier mit einer spezifischen Gegen- und Binnenrationalität zu tun: Sie ist auf irrationalen Prämissen, wie das Volk und seine Identität aufgebaut. Alles, was dem Ganzen dient, ist nun vernünftig. Jede Kritik droht demgegenüber die – wie die Identitären sie nennen – "organische Gemeinschaft" zu zersetzen. Der Faschismus preist darum nicht das potentiell kritikfähige Individuum, sondern die Volksgemeinschaft, die zum Kollektivsubjekt erhoben und mit "Identität" ausgestattet wird – und der man sich im Ernstfall auch zu opfern habe.

Kundgebung der Identitären-Bewegung im September in der Wiener Innenstadt.
Foto: APA/EXPA/MICHAEL GRUBER

Angst vor Differenz

Die Zustimmung zum Faschismus erklärt Eco mit der Ausbeutung und Vertiefung der "Angst vor dem Andersartigen": "Der erste Appell einer faschistischen oder vorfaschistischen Bewegung richtet sich immer gegen die Eindringlinge. Daher ist der Urfaschismus per definitionem rassistisch." Aber genau das geben die Identitären vor, nicht zu sein. Ihr Ethnopluralismus sei etwas ganz Anderes als Rassismus. Er werte nicht zwischen den "Völkern" oder "Kulturen", sondern wolle sie – in ihrer jeweils "angestammten Heimat" – erhalten. Solch ideologische Selbstdarstellung ist nicht neu, schon Adolf Hitler war Ethnopluralist. 1934 versicherte er im Reichsrat: "Der nationalsozialistische Rassegedanke und die ihm zugrundeliegende Rassenerkenntnis [führt] nicht zu einer Geringschätzung oder Minderbewertung anderer Völker". Alter und neuer Rassismus haben zudem den Reinheitswahn oder die Mixophobie gemeinsam. Nur ist es einmal die Rasse, das andere Mal die Kultur, die rein gehalten und vor Vermischung geschützt werden soll.

Der "Ur-Faschismus" kommt laut Eco nicht aus ohne "Feinde", die dem falschen Ganzen erst Kohäsion verleihen. Sie sind "die einzigen, die der Nation eine Identität geben können […]. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, nach Möglichkeit einer internationalen. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am einfachsten lässt sich eine Verschwörung durch einen Appell an den Fremdenhass hervorzaubern. Allerdings muss die Verschwörung auch von innen kommen; daher sind die Juden gewöhnlich das beste Ziel, da sie den Vorteil bieten, gleichzeitig innen und außen zu sein." Mögen es die Identitären leugnen und ihre Ressentiments hinter Andeutungen und Codes verstecken: Sie sind so antisemitisch wie die Völkischen seit jeher. Die (Volks-)Gemeinschaft ist ohne (jüdische) Volksfremde, welche die homogene Eigengruppe (mit Zersetzung) bedrohen, nicht zu haben. Aber die "Feinde" werden nicht mehr offen als Juden und Jüdinnen benannt. Außerhalb neonazistischer oder islamistischer Kreise artikuliert sich Antisemitismus heute über Umwege. So dämonisiert er gerne jüdische Stellvertreterinnen und Stellvertreter wie George Soros, der angeblich hinter dem "großen Austausch" stehe.

Abendländisches Syndrom

Eco weist auf narzisstische Kränkungen hin, welche den Faschismus auf seine Bahn bringen. Was ursprünglich zur eigenen Heroisierung gedacht war, das Ausstatten des "Feindes" mit Übermacht, wird rasch zur Quelle von Kränkung: "Die Anhänger müssen sich […] von der Stärke ihrer Feinde gedemütigt fühlen." Aber, so Eco weiter, sie "müssen jedoch auch überzeugt sein, dass sie die Feinde besiegen können. So kommt es, dass die Feinde durch eine ständige Verlagerung des rhetorischen Brennpunkts, gleichzeitig zu stark und zu schwach sind." In der Geschichte Europas mussten Jüdinnen und Juden solche, gleichzeitig über- und minderwertige Feinde abgeben. Weil aber der offene Antisemitismus nach Auschwitz mit einer Kommunikationslatenz belegt ist, wurden manche seiner Stereotypen auf andere Gruppen übertragen. Heute sind es vor allem Musliminnen und Muslime, denen vieles von dem zugeschrieben wird, was auch Jüdinnen und Juden nachgesagt wurde. Aber immer noch sind letztere jene geheime Macht im Hintergrund, die alles steuere. Der Antisemitismus ist nicht vollständig im antimuslimischen Rassismus aufgegangen, vielmehr ergänzen sich beide zum abendländischen Syndrom.

Eco nennt schließlich die heroische Haltung als Merkmal des "Ur-Faschismus", der das ganze Leben mit "Kampf" identifiziert. Für ihn "ist Pazifismus Kollaboration mit dem Feind. Pazifismus ist schlecht, weil das Leben ein permanenter Krieg ist. Das erzeugt jedoch einen Armageddon-Komplex." Dieses apokalyptische Schema ist dem Christentum entlehnt und prägte schon den Nazismus. Heute sind es die identitären "Untergangster" des Abendlandes, die dieses aus der Dunkelheit ins Licht führen wollen. Eng verwoben mit dem maskulinistischen Heroismus ist das nicht minder männliche "Elitedenken", das den "Ur-Faschismus" ebenfalls kennzeichnet. Seine aristokratische Haltung ist untrennbar verbunden mit der "Verachtung des Schwachen".

Im "Ur-Faschismus" ist nach Eco "Heldentum die Norm. Dieser Kult des Heroismus ist eng mit dem Kult des Todes verbunden. […] Der urfaschistische Held wartet mit Ungeduld auf den Tod." Auch diesen Zug zum Tod teilen die Identitären mit dem Faschismus: "Viva la Muerte!" riefen die spanischen Faschistinnen und Faschisten, "Vive la Morte!" drucken die Identitären heute auf ihre "T-Hemden", mit denen sie Geld machen. Walter Benjamin kennzeichnete den Faschismus als die Ästhetisierung des Politischen. Weil die Identitären das Politische mit ihrem Idol Carl Schmitt als Vernichtungskampf gegen einen "Feind" sehen, meint dies in ihrem Fall die Ästhetisierung der Gewalt. Nach Eco sind aber "sowohl permanenter Krieg wie Heldentum schwierige Spiele", darum "überträgt der Ur-Faschist seinen Willen zur Macht auf das sexuelle Gebiet. Dies ist der Ursprung des Machismo […]. Da aber auch Sexualität ein schwieriges Spiel ist, neigt der urfaschistische Held zum Spiel mit Waffen, die dann sein Phallusersatz werden." Solcher Phallusersatz sind die Degen, mit welchen sich die Identitären auf den Burschenschafterbuden die Wangen aufschlitzen. Oder die Schlagstöcke, mit denen sie für den "Ernstfall" trainieren.

Als letztes Merkmal führt Eco die Rechtlosigkeit der Individuen an. Vielmehr werde "das 'Volksganze' als eine Qualität" oder "monolithische Entität" begriffen, "die den gemeinsamen Willen aller zum Ausdruck bringt." Die Identitären nennen das heute "Identität“ – jener paradiesische Zustand in der Gemeinschaft der Identischen nach der, wie Schmitt forderte, "Ausscheidung und Vernichtung alles Heterogenen". Als diejenigen, die den gemeinschaftlichen Willen erkennen und ihm gehorchen, bringen sich die Identitären in Stellung. Diese Selbstinszenierung als Elite, die ihren Führungsanspruch aus der demonstrativen Bereitschaft zum Selbstopfer ableitet, mag lächerlich erscheinen. Die Bedrohung ist aber ernst zu nehmen. (Heribert Schiedel, 25.9.2019)

Heribert Schiedel ist Rechtsextremismusforscher am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und
engagiert sich in der "Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich".

Literaturhinweis

  • Umberto Eco: Vier moralische Schriften, München/Wien 1998.

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