Ein Traktor bringt Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung aus. Ob in diesem Fall biodiversitätsschonende Landwirtschaft betrieben wird?

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Stefan Dullinger ist Professor für Vegetation Science am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien.

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Zu den faszinierendsten Eigenschaften des Lebens gehört seine Vielfalt. Die Zahl der Arten, die heute unseren Planeten bevölkern, von Bakterien über Gänseblümchen bis zu Blauwalen, wird auf mindestens acht bis zehn Millionen geschätzt. Nur rund zwei Millionen Arten sind bis heute beschrieben. Die Katalogisierung der globalen Biodiversität hat also in den knapp 250 Jahren seit der Einführung der wissenschaftlichen Benennungs- und Beschreibungsregeln nicht mehr als ein Viertel ihrer Aufgabe erledigt. Aktuell sieht es nicht so aus als würden weitere 750 Jahre bis zur vollständigen Erfassung vergehen. Nicht nur weil die Wissenschaft ihr Beschreibungstempo erhöht, sondern weil ihr die zu beschreibenden Objekte abhandenkommen könnten.

Massensterben droht

Der Weltbiodiversitätsrat hat in seinem Bericht vom Mai dieses Jahres von einer Million bedrohter Arten gesprochen. Die Zahl ist eine grobe Schätzung, liegt aber eher zu niedrig als zu hoch. Sollte sich diese Bedrohung in den nächsten Jahrhunderten realisieren, sollten die gefährdeten Arten also tatsächlich aussterben, dann würde die natürliche Aussterberate der letzten 60 Millionen Jahre um das Tausendfache überschritten. Für Säugetiere und Vögel, die am besten dokumentierten Artengruppen, lag übrigens die faktische Aussterberate der letzten 500 Jahre schon um das Zehn- bis Hundertfache über dieser natürlichen Hintergrundrate.

Die Welt erlebt nicht ihre erste Biodiversitätskrise. Einzigartig am aktuell drohenden Massensterben ist seine Ursache. Es ist das Verhalten einer einzigen Art, die das Überleben von mindestens einer Million anderen Arten aufs Spiel setzt. Der Mensch plündert natürliche Populationen, zum Beispiel durch Überfischung der Meere, zerstört oder vergiftet ihre Lebensräume, oder konfrontiert sie mit physischen und biologischen Umwelten, zum Beispiel durch Verschleppung gebietsfremder Arten, an die sie evolutionär nicht angepasst sind.

Keine politische Priorität

Wie der Klimawandel ist das Artensterben ein Kollateralschaden der menschlichen Erfolgsgeschichte, und auf beide Phänomene reagieren wir bis dato ähnlich. Zu diesen Ähnlichkeiten gehört die Diskrepanz von Problembewusstsein und Problemlösungsbereitschaft. War das Artensterben vor 30 Jahren noch ein Phänomen, das die meisten in exotischen Regionen verortet hätten–"Die Serengeti darf nicht sterben"– so ist es allerspätestens mit dem Insektensterben auch als in Europa virulentes Problem im allgemeinen Bewusstsein angekommen. In Deutschland war es sogar Thema der letzten Koalitionsverhandlungen, in Österreich leider nicht. Dagegen getan wird trotzdem weiterhin wenig.

Eklatantes aktuelles Beispiel: die anstehende Reform der Europäischen Agrarpolitik. Die EU steckt Jahr für Jahr Dutzende Milliarden Euro Steuergelder in die Förderung der Landwirtschaft, anerkannter Maßen ein Hauptverursacher der Biodiversitätskrise. Von diesen Steuergeldern sind mehr als 60 Prozent rein flächenbezogene Subventionen, die ohne oder mit marginalen und ineffizienten Bewirtschaftungsauflagen ausgezahlt werden. Nur rund acht Prozent sind für die Förderung einer umwelt- oder biodiversitätsschonenden Landwirtschaft reserviert. Für die 2020 anstehende Reform ist nicht etwa eine Revision, sondern eine weitere Verschärfung dieser Asymmetrie geplant. Es scheint als gelänge es einer Minderheit innerhalb einer Minderheit (den Großbetrieben innerhalb der winzigen Bevölkerungsgruppe der Landwirte) weiterhin, ihre ökonomischen Interessen gegen das öffentliche Interesse an einer Symbiose aus Lebensmittelproduktion und intakter Natur durchzusetzen.

Ja zu vegetarischen Kantinen, Nein zu Holzplantagen

Ähnlich wie beim Klimawandel wird sich auch beim Artensterben das Schlimmste nur verhindern lassen, wenn vor allem die Politik ihre Verantwortung wahrnimmt statt sie an private Konsumentscheidungen zu delegieren. Das Lamentieren über damit eventuell verbundene "Zwänge" wirkt in einer Gesellschaft, in der jeder von Ge- und Verboten umzingelt ist, befremdlich. Ist es mit der ‚Freiheit des Individuums‘ wirklich besser vereinbar, den Konsum von Marihuana zu verbieten als das Angebot in öffentlichen Küchen und Kantinen obligat auf (biologisch produzierte) vegetarische Gerichte umzustellen? Der weltweite Fleischkonsum ist wegen des immensen Flächenverbrauchs nicht nur für das Klima, sondern auch für die Biodiversität ein massives Problem. Ist es wirklich mehr im öffentlichen Interesse, das Fahrradfahren auf Forststraßen zu verbieten – Österreich ist übrigens eines der wenigen Länder mit einem solchen Verbot – als die Umwandlung unserer Wälder in biodiversitätsfeindliche Holzplantagen? Zu den Dimensionen der politischen Verantwortung gehört übrigens auch der Ausgleich zwischen Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Die eigentliche Aufgabe der Politik wäre, sowohl Ausbeutung der Natur als auch ökonomische Ungleichheit zu reduzieren, anstatt das eine als Argument dafür zu verwenden, gegen das andere nichts zu tun.

Verantwortung der Konsumenten

Die Notwendigkeit politischer Maßnahmen bedeutet nicht, dass wir aus der individuellen Verantwortung entlassen sind. Das gilt besonders für uns Bürgerinnen und Bürger der reichen Länder. Der Konsum des globalen Nordens gefährdet nicht nur die Arten im eigenen Land, sondern mindestens genau so sehr die große Artenvielfalt im globalen Süden. In einer globalisierten Welt sind es auch und vor allem die Fernwirkungen des europäischen und nordamerikanischen Konsums, die die Amazonaswälder brennen lassen. Was Biodiversität und Klima wirklich brauchen, ist eine Metamorphose sozialer Wertvorstellungen nach dem Motto "Konsumscham statt Geltungskonsum". In vielen Fällen ist der damit angeblich verbundene "Verzicht" übrigens nur eine Gewohnheitsänderung, die das Leben um nichts weniger genussvoll machen muss. Der Fleischkonsum ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Ich selbst war lange Fleischesser, seit zwölf Jahren bin ich (Fast-)Vegetarier. Ich habe viele neue Gerichte kennen gelernt und vermisse nichts. (Stefan Dullinger, 8.10.2019)