Der Londoner Supreme Court hat am Dienstag Verfassungsgeschichte geschrieben. Einstimmig verwarfen die elf Höchstrichter die von Boris Johnson angeordnete Zwangspause fürs Parlament als "unrechtmäßig, nichtig und ohne Effekt". Der in New York weilende Premierminister sah sich umgehend mit Rücktrittsforderungen der Opposition konfrontiert. Seine Regierung werde das Urteil respektieren, obwohl er gänzlich anderer Meinung sei, sagte Johnson. Parlamentspräsident John Bercow ordnete die Rückkehr der Unterhausabgeordneten für Mittwoch an.

Frage: Wie hat das Gericht sein Urteil begründet?

Antwort: Die dreitägige Verhandlung der drei Frauen und acht Männer unter Vorsitz von Justice Brenda Hale ließ vergangene Woche keinen Rückschluss auf deren politische Sympathien zu. Sowohl die Regierungsanwälte, angeführt von Lord Richard Keen, wie auch Lord David Pannick als Vertreter der Klägerin Gina Miller und Aidan O'Neill für die Parlamentarier sahen sich bohrenden Nachfragen der Richter ausgesetzt.

Das britische Parlament kommt am Mittwoch um 12.30 Uhr wieder zusammen.
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Umso überraschender kam am Dienstag die einmütige Entscheidung. Der Supreme Court erklärte sich uneingeschränkt für zuständig: Schließlich habe ein Gericht bereits 1611 dem damaligen König James politischen Spielraum "nur innerhalb der Gesetze des Landes" zugebilligt. Die Prorogation gehöre zwar zu den Aufgaben der Exekutive, rühre aber an einem Verfassungsprinzip, nämlich die Souveränität des Parlaments. Dessen Fähigkeit zur Kontrolle der Regierung und zum Erlassen neuer Gesetze werde im Vorfeld des Brexit-Termins zu lange behindert, nämlich in fünf von acht möglichen Sitzungswochen: "Die Wirkung auf fundamentale Pfeiler unserer Demokratie war extrem", lautete die Einschätzung der Richter.

Frage: Was bedeutet das Urteil ganz konkret für das Parlament?

Antwort: Die Zwangspause wird behandelt, als habe es sie nicht gegeben. Speaker John Bercow rief das Unterhaus bereits am Dienstagmittag für eine Sitzung am Mittwoch zusammen. Es kann dann nicht nur den Premierminister zu einer Aktuellen Stunde zitieren, sondern auch neue Sonderdebatten beantragen. Außerdem geht die normale Gesetzgebungsarbeit weiter. So hatte die Zwangspause beispielsweise eine bereits weit gediehene Novelle des Gesetzes gegen häusliche Gewalt von der Tagesordnung gedrängt.

Frage: Wie reagiert Johnson? Welche Optionen bleiben ihm?

Antwort: Der Premierminister hatte bereits vor Gericht erklären lassen, er werde in keinem Fall zurücktreten. Seine Reaktion in New York, wo er an der UN-Klimakonferenz teilnahm, fiel schmallippig aus. Natürlich respektiere er das Urteil des Supreme Court, bleibe aber "gänzlich anderer Meinung". Eine Pause fürs Parlament zur Vorbereitung einer Regierungserklärung sei ganz normal. Am Mittwoch steht ihm in der Heimat eine kontroverse Parlamentssitzung bevor. Der Premierminister sprach von "vielen Leuten, die den Brexit verhindern wollen". Seine Suche nach einer neuen Vereinbarung mit Brüssel sei durch die Londoner Entscheidung nicht einfacher geworden. Entscheiden muss der konservative Parteichef auch, ob und in welcher Form er den für kommende Woche geplanten Parteitag in Manchester durchführen will. Das für vier Tage geplante Jahrestreffen dient nicht nur der Ermutigung der Aktivisten, es stellt auch eine wichtige Geldquelle für die Konservativen dar.

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Während Johnson in New York bei der Generalversammlung weilte, drehte sich das Brexit-Rad in London weiter. Mit dem Urteil zeigte er sich "überhaupt nicht einverstanden".
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Frage: Wie reagiert die Opposition?

Antwort: Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sprach von der "bedeutendsten verfassungsrechtlichen Entscheidung unserer Zeit". Den Premierminister forderte die Chefin der Nationalpartei SNP zum Rücktritt auf: "Er ist seines Amtes nicht würdig." Ähnlich äußerten sich Vertreter von Liberaldemokraten, Grünen und walisischen Nationalisten.

In ähnlicher Schärfe urteilte der frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve über seinen Parteifeind: Johnson habe die Öffentlichkeit belogen, sein Verhalten gegenüber der Queen sei "unredlich" gewesen. Grieve stimmte einem Tweet des Brexit-Parteichefs Nigel Farage zu: Wegen der "verheerend falschen politischen Entscheidung" solle Johnson seinen Chefberater Dominic Cummings feuern.

Verklausulierter formulierte Oppositionsführer Jeremy Corbyn seinen Rat für den Regierungschef: Dieser solle "über seine Position nachdenken". Der Labour-Chef verlangte Johnsons Rücktritt und Neuwahlen – letzteres allerdings erst, wenn klar sei, dass die Regierung Großbritannien nicht ohne Abkommen aus der EU austreten lasse. Seine Partei wolle "die Entscheidung dem Volk überlassen". Innerhalb von drei Monaten, nachdem Labour an die Macht gekommen ist, will Corbyn ein Abkommen ausverhandelt haben. Spätestens drei Monate später soll das Volk in einem Referendum darüber abstimmen – und auch ein EU-Verbleib soll eine Option auf dem Stimmzettel sein. "Ich werde durchführen, was das Volk entscheidet", kündigte Corbyn an.

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Labour-Chef Jeremy Corbyn verlangte Johnsons Rücktritt und Neuwahlen.
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Frage: Welche Auswirkungen hat das Urteil auf den Brexit?

Antwort: Vordergründig keine. Wie bei der Verhandlung vergangene Woche wies Gerichtspräsidentin Hale auch im Urteil darauf hin, dass der Supreme Court weder über den Zeitpunkt noch die Art des britischen EU-Austritts zu entscheiden hatte. Theoretisch könnten die Parlamentarier die ihnen zusätzlich zur Verfügung stehende Zeit zu Debatten über besseren Tierschutz oder die im Argen liegende Pflegeversicherung nutzen.

In Wirklichkeit stärkt das Urteil aber jenen den Rücken, die mit Johnsons Brexit-Kurs unzufrieden sind, und zwar auf beiden Seiten. (Sebastian Borger aus London, 24.9.2019)