Der Menschheit könne nichts Besseres passieren als ein Ende von Youtube, sagt Roger McNamee. Jedenfalls könne er sich nichts Besseres für die Menschheit vorstellen. Vielleicht, wenn er gerade nicht an Facebook denkt – den Weltkonzern der Interaktion von Mark Zuckerberg, den McNamee schon viele Jahre kennt und "Zuck" nennt, den er beraten hat und in dessen Social Network er 2010 ordentlich investiert hat.

Vollzeitaktivist gegen "Überwachungskapitalismus"

Heute ist McNamee (63) "Vollzeitaktivist", und kein Investor mehr, sagt er im STANDARD-Interview, auch wenn er noch ein paar wenige Facebook-Aktien besitze. Er ist Aktivist gegen Facebook, Google und Youtube, Microsoft und Linkedin sowie Amazon. Jedenfalls gegen ihren "Überwachungskapitalismus". Über sie und über ihr grundböses Geschäftsmodell hat McNamee eine Abrechnung geschrieben. "Zucked", erschienen bei Penguin Random House.

Freitag in Wien mit Schrems, Morozov

Mittwoch spricht McNamee bei den österreichischen Medientagen. Freitag diskutiert er beim Humanities-Festival bei freiem Eintritt ab 19 Uhr in der Wiener Marx-Halle mit dem Datenschutzaktivisten Max Schrems und dem Autor Evgeny Morozov über "Social Networks or Social Nightmares". Es dürfte eher um Albträume gehen – für McNamee sind die Plattformkonzerne schlichtweg eine "Katastrophe".

Facebook hat übrigens gerade eine Firma gekauft, die sich mit der Gerätesteuerung über Gedanken beschäftigt.

Smartphones machen die Menschen besonders süchtig, sagt Aktivist Roger McNamee. "Alle drei Sekunden schauen wir darauf."
Foto: APA/AFP/JOEL SAGET

STANDARD: Was macht etwa Facebook und Google zu – ich zitiere – "Katastrophen" für die Menschheit?

McNamee: Die USA haben ein völlig deregulierte Sicht auf die Wirtschaft. Kluge Menschen können in dieser Wirtschaft im Grunde Geschäfte machen, wie immer sie wollen. Facebook, Google und immer mehr auch Microsoft und Amazon betreiben Überwachungskapitalismus, so nennt das Harvard-Professorin Shoshana Zuboff.

"Aus allen verfügbaren Daten über jeden einzelnen Menschen formt man quasi Daten-Voodoo-Puppen, zusammengesetzt aus unserem digitalen Leben"

STANDARD: Der, jedenfalls für einige Tech-Riesen, gläserne Mensch.

McNamee: Mehr als das. Google hat damit begonnen: Menschliche Erfahrung wird in Daten umgewandelt. Man sammelt alle verfügbaren Daten über jeden einzelnen Menschen. Und aus diesen Daten formt man quasi Daten-Voodoo-Puppen – zusammengesetzt aus unserem gesamten digitalen Leben. Von Bank- und Finanzdaten über Ihre Gesundheit und Ihren Standort bis hin zu allem, was Sie im Internet tun, was Sie in Mails oder Messengerdiensten schreiben, was Produktivitäts-Apps über Sie sammeln, und allem, was Amazon Alexa und Google System von Ihnen daheim erlauschen.

STANDARD: Und was kann man mit dieser Voodoo-Puppe anstellen?

McNamee: Sie verwenden diese Puppe, um Verhalten vorherzusagen. Das ist ein fundamentaler Umbruch im Marketing: Bisher suchte das Marketing nach demografischen Merkmalen seine Zielgruppe. Aber nun kommt dazu der Faktor Voraussage: Es geht darum, die Menschen in ihrer aktuellen Lebenswelt, ihrem Lebensgefühl zu erreichen. Google hat größere Ereignisse im Leben seiner User dokumentiert – Hochzeit, Kinder, Wohnungskauf, Autokauf – und die Muster analysiert. Mit diesen Mustern errechnen sie nun die Wahrscheinlichkeit für solche Entwicklungen in Ihrem Leben – mit einer Sicherheit, die es noch nie zuvor gab. Google kann mit 90-prozentiger Sicherheit vor der Frau selbst sagen, ob sie schwanger ist.

STANDARD: Perfekt für Anbieter von Schwangerschaftsmode bis Windeln.

McNamee: Man darf nicht vergessen: Dieses Geschäftsmodell ist die Basis von Unternehmen, deren Produkte unsere wichtigste Informationsquelle sind. Wir vertrauen Google, wir vertrauen Facebook, wir vertrauen Amazon und Microsoft, dass sie uns ehrliche Antworten auf unsere Sucheingaben liefern. Sie aber verwenden dieselbe Daten-Voodoo-Puppe auch dafür – und schränken damit unsere Auswahl ein auf jene Ergebnisse, die ihrem wirtschaftlichen Interesse am besten entsprechen. Sie liefern der Werbewirtschaft perfekte Informationen und kontrollieren gleichzeitig die Informationen, die wir bekommen.

STANDARD: Windelhersteller können sich vorfreuen – aber muss das schon eine Gefahr bedeuten?

McNamee: Der Umstand an sich ist gruselig, aber noch nicht gefährlich. Aber diese Information über die Schwangerschaft und den Zugang zur jeweiligen Person kann sich auch ein Verschwörungstheoretiker kaufen, der zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus behauptet. Diese Art von Targeting liefert dem Verschwörungstheoretiker ein womöglich gerade besonders empfängliches Publikum.

"Die großen Plattformkonzerne schädigen die Gesellschaft auf vier Arten: Sie schaden der öffentlichen Gesundheit, der Demokratie, der Privatsphäre sowie Wettbewerb und Innovation."

STANDARD: Die Tech-Konzerne liefern diese Daten nicht alleine der Werbewirtschaft und Verschwörungstheoretikern, sondern auch politischen Parteien und, sagen wir es möglichst breit, Interessengruppen.

McNamee: Jeder kann sich Zugang zu diesen perfekten Informationen kaufen. Das ist das Problem. Die großen Plattformkonzerne schädigen die Gesellschaft auf vier Arten: Sie schaden der öffentlichen Gesundheit, der Demokratie, der Privatsphäre sowie Wettbewerb und Innovation. Die ersten drei sind eine unmittelbare Folge des Überwachungskapitalismus. Und die größten Herausforderungen der Menschheit hängen damit zusammen: Klimawandel, der Aufstieg von Extremismus, weiße Überlegenheitsideologien, Zuwanderungsgegner, Impfgegner. Die Macht der Onlineplattformen verhindert die politische Lösung all dieser Herausforderungen – und die Macht, die Onlineplattformen den Playern hinter diesen Themen verleihen. Facebook, Google und Co geben den wütendsten, den sozial am wenigsten konstruktiven Positionen die lauteste Stimme.

"Das sind keine zufälligen Kollateralschäden. Das ist das Kerngeschäft dieser Plattformen."

STANDARD: Für die meiste Interaktion sorgt Wut.

McNamee: Facebook, Google und immer mehr Instagram sind besonders gefährlich. Sie sind exakt dafür designt, Menschen möglichst intensiv zu beschäftigen. Also liefern sie Ihnen jene Inhalte, mit denen Sie sich möglichst lange beschäftigen. Und für zwei Drittel ihres Publikums funktionieren jene Inhalte am besten, die an den alten Teil unseres Hirn appellieren, der uns mit Eidechsen verbindet: Reflexe von Flucht oder Kampf, ausgelöst von Angst oder Wut. Das sind die effektivsten Inhalte, um Sie zu fesseln: Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und Desinformation. Die Algorithmen promoten, was uns erregt und beschäftigt. Also zählen diese Inhalte zu den wichtigsten Treibern des Geschäfts von Youtube und Facebook. Das sind keine zufälligen Kollateralschäden. Das ist das Kerngeschäft dieser Plattformen.

STANDARD: Was halten Sie von Mark Zuckerbergs Reaktionen auf Enthüllungen und Kritik? In den vergangenen Monaten hat er angekündigt, vielfach mehr Moderatoren zu beschäftigen, einen eigenen News-Kanal. Facebook kooperiert mit Faktencheck-Organisationen, es veröffentlicht die Werbebudgets politischer Gruppierungen, gerade wurden einige 10.000 Apps gesperrt, die auf Daten zugriffen, ein neuer Kontrollbeirat für Fragen freier Meinungsäußerung und Moderation soll eingerichtet werden. Macht das Facebook weniger katastrophal?

McNamee: Praktisch alles davon können wir unter Public Relations ablegen. Mit einer Ausnahme: Die Sperre von zehntausenden Apps war ein wesentlicher Schritt – der einzig wesentliche unter den Maßnahmen von Facebook. Aber er kommt zumindest fünf Jahre zu spät. Zunächst hat Facebook versucht, uns weiszumachen, dass Cambridge Analytica ein Ausnahmefall gewesen sei. Tatsächlich gab es zwischen 2010 und 2014 zehntausende Apps, die Zugang zu solchen Daten hatten. Laut Associated Press haben zwei Millionen Apps Daten abgesaugt. Zehntausende haben das systematisch getan. Damals gab es neun Millionen Apps auf der Facebook-Plattform. Ich schätze, dass zwischen 10.000 und 90.000 Apps das getan haben, was Cambridge Analytica getan hat. Und darunter waren etwa Spieleplattformen mit hunderten Millionen Usern. Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch in der entwickelten Welt mehr als einmal davon betroffen war. Die Story über Cambridge Analytica wurde vor eineinhalb Jahren von einer Journalistin des "Observer" enthüllt, und es passierte vor fünf Jahren.

"Da ist einfach zu viel Müll auf Facebook. Und Algorithmen fördern Hass, Verschwörungstheorie, Desinformation."

STANDARD: Was halten Sie von diesem angekündigten Kontrollbeirat?

McNamee: Der Beirat wird dem Muster praktisch aller Maßnahmen von Facebook folgen – und dem User, der Userin überhaupt nicht helfen. Selbst wenn sie ihr Regelwerk ändern und sie nach der Veröffentlichung von Postings aktiv werden, kann das in den globalen Größenordnungen von Facebook nicht wirksam sein. Da ist einfach zu viel Müll. Das Grundproblem ist das Geschäftsmodell von Facebook selbst: Die Algorithmen fördern Inhalte, die Emotionen hervorrufen. Und Hass, Verschwörungstheorie, gezielte Desinformation erfüllen diese Anforderungen am allerbesten. Und Mark Zuckerbergs Manifest, die Zukunft liege in persönlicher, verschlüsselter Kommunikation, weist ja nur die Verantwortung für Hassbotschaften, Verschwörungstheorien und Desinformation von sich. In einem verschlüsselten System sind sie von außen nicht mehr erkennbar.

STANDARD: Wie würde ein sozial verantwortungsvolles Facebook aussehen?

McNamee: Wenn man Facebook sozial verantwortungsvoll machen will, dann muss man das Geschäftsmodell ändern. Ob Facebook es ernst meint oder nur Public Relations betreibt, lässt sich ganz einfach an seinen Produkten überprüfen. Sie haben gerade eine neue Version von Portal vorgestellt – ein Videokonferenz-Tool, das unglaublich in die Privatsphäre eindringt. Und sie haben Libra, eine Kryptowährung, angekündigt, die den Euro, das Pfund, den Dollar untergraben wird. Sie scheinen davon auszugehen, dass sie ohnehin immer schneller sind als Regierungen mit regulatorischen Maßnahmen.

STANDARD: Können Sie sich ein Facebook vorstellen, das keine Katastrophe ist – und wie würde dieses Facebook aussehen?

McNamee: Die Vorstellung ist ganz einfach. Facebook war einmal ungefährlich – wenn man vom schon viel früher furchtbaren Umgang mit Privatsphäre absieht. 2013 hat die Plattform mit dem Überwachungskapitalismus begonnen. Facebook wäre weit weniger profitabel ohne diesen Überwachungskapitalismus.

"Das Problem ist ein Geschäftsmodell, das auf der Verletzung von Menschenrechten basiert und darin, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verhalten zu manipulieren."

STANDARD: Social Media können also auch harmlos sein?

McNamee: Die Technologie von Social Media ist nicht das Problem. Es ist ein Geschäftsmodell, das auf der Verletzung von Menschenrechten basiert, und darin, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verhalten zu manipulieren.

STANDARD: Wie würde also ein Facebook aussehen, das all das nicht tut und womöglich der Gesellschaft dient?

McNamee: Es würde keine Daten-Vodoo-Puppen verwenden. Es würde keine Hassbotschaften, Verschwörungstheorien, Desinformation vervielfachen. Ich bin wirklich nicht für Zensur. Ich will nur dieses Vervielfachen von Hass, Desinformation, Verschwörungstheorien beenden, jegliches Vervielfachen. Ich will zum ursprünglichen Facebook zurück: Ich poste etwas, und meine Freunde sehen es. Das wäre ein viel weniger profitables Business – aber die Gesellschaft würde davon profitieren.

STANDARD: Wären Social Media womöglich kein Geschäft mehr, wenn sie weit weniger profitabel sind?

McNamee: Social Media sind inzwischen eine Art Grundversorgung. Die Regierung sollte sich damit anfreunden, diese Services zu subventionieren – um sicherzustellen, dass diese Plattformen die Gesellschaft oder die Userinnen und User nicht schädigen. In den USA subventionieren wir Erdölförderung – die das Klima schädigt. Wir subventionieren die Zuckergewinnung – die die Menschen schädigt. Für mich ist das recht offensichtlich: Wir sollten weder Öl noch Zucker fördern, aber Social Media.

STANDARD: Sie vergleichen die Plattformkonzerne gern mit der chemischen Industrie vor einem breiteren Umweltbewusstsein.

McNamee: Facebook, Google und mehr und mehr auch Microsoft und Amazon sind wie die chemische Industrie vor 1980. Die haben ihre Abfälle einfach ohne Rücksicht auf Umwelt und Gesundheit dort deponiert, wo es am praktischsten für sie war – Quecksilber ins Trinkwasser zum Beispiel. Und niemand hat sie für die Folgen und ihre Kosten verantwortlich gemacht. Das Ergebnis: massive Umweltverschmutzung und Auswirkungen auf die Gesundheit. Und schließlich mussten sie doch für die von ihnen verursachten Schäden zahlen. Aus meiner Sicht verursachen die Plattformen eine digitale Ölpest. Und die Gesellschaft muss sie dafür zur Verantwortung ziehen – und ihnen die Folgekosten in Rechnung stellen. Wenn die Strafe dafür hoch genug ist, werden sie es sich gut überlegen, die Welt weiterhin digital zu verpesten.

STANDARD: Die jüngsten fünf Milliarden an Strafe für Verletzung der Privatsphäre und Datenmissbrauch der US-Wettbewerbsbehörde FTC haben Facebook offenbar nicht wirklich getroffen.

McNamee: Der Aktienkurs ging nach diesem Kompromiss sogar hinauf. Und der Aktienkurs von Google war auch ziemlich unbeeindruckt von der Milliardenstrafe der EU-Wettbewerbsbehörden. Sogar wenn Regierungen und Behörden Strafen in bisher nicht da gewesener Höhe aussprechen, sind diese Strafen nicht hoch genug, um diese Konzerne von ihrem Kurs abzubringen.

"Google und Co tun so, als trügen sie für den fortschreitenden Klimawandel keine Verantwortung – aber das ist Unsinn. Das sollten wir nicht akzeptieren."

STANDARD: Sie sehen eine Mitverantwortung von Facebook, Google und Co dafür, dass im Klimaschutz kaum etwas weitergeht:

McNamee: Klimawandel brachte vorige Woche Millionen von Menschen auf die Straße. Aber es ist praktisch unmöglich, über Klimawandel einen globalen Konsens zu erzielen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Klimasünder und Leugner des Klimawandels übermäßigen politischen Einfluss haben – auch dank ihrer Kommunikation über Social Media. Facebook, Google und Co tun so, als trügen sie dafür keine Verantwortung – aber das ist Unsinn. Das sollten wir nicht akzeptieren.

STANDARD: Was sollten Bürger, Konsumenten, User und Userinnen denn aus Ihrer Sicht tun?

McNamee: Vor allem Druck auf Politiker zu machen. Freunden erklären, worum es geht. Der Klimawandel wird weitergehen, solange wir nicht etwas gegen den Überwachungskapitalismus unternehmen. Wir werden nicht nur die Masern und die Kinderlähmung zurückkommen sehen, sondern viele, viele besiegt geglaubte Erkrankungen. Wir werden mehr Terrorismus sehen. Wir werden mehr Gewalt sehen. Vielleicht wollen die Leute das ja – eingeschränkte Wahlmöglichkeiten, weniger Freiheiten, weniger Demokratie. Aber wir müssen das zumindest offen und ehrlich diskutieren, bevor es zu spät ist.

STANDARD: Und was soll die Politik tun, wozu sollen die Wählerinnen und Wähler sie drängen aus Ihrer Sicht?

McNamee: In Europa gibt es viele Gesetze, etwa gegen Hassbotschaften. Privatsphäre ist als ein Grundrecht verankert. Ich finde: Das Recht auf persönliche Daten sollte ebenso ein Menschenrecht sein – und kein Wirtschaftsgut. Europa muss diese Tech-Plattformen streng regulieren, weil ihr ganzes Geschäftsmodell auf der Ausbeutung von etwas basiert, das ein Menschenrecht sein sollte. Ich habe mit Politikern in vielen Ländern gesprochen, in den USA, Kanada, Singapur, Marokko, Deutschland, in Frankreich, in Großbritannien. Politiker fürchten sich davor, dass die Userinnen und User nicht wollen, dass sie Facebook, Google und Co beschränken und von ihrem Kurs abbringen. Das ist wiederum ein Ergebnis der sehr effektiven Öffentlichkeitsarbeit dieser Konzerne. Es ist unsere Aufgabe, die Menschen aufzuklären. Die Menschen fürchten sich vor Veränderung. Ich verstehe das. Aber sie stehen vor der Wahl, ob dieser Planet überhitzt oder sie für einen Monat auf Google verzichten müssen.

"Diese Konzerne beschränken eure Auswahl, eure Freiheit. Sie schaden euren Kindern, sie zerstören die Demokratie. Sie verletzen eure Privatsphäre in jeder erdenklichen Weise. Wir wollen euch davor schützen."

STANDARD: Google und Youtube mobilisierten sehr erfolgreich gegen die europäische Urheberrechts-Richtlinie (korrigiert, ursprünglich: Datenschutz-Grundverordnung) – bis hin zur Drohung, Youtube müsste dann quasi zusperren.

McNamee: Ich kann mir nichts Besseres für die Menschheit vorstellen, als Youtube einzustellen. Und es würde zwischen einer Stunde und einer Woche dauern, um Youtube zu ersetzen. Diese europäische Datenschutzverordnung reicht aber auch nicht: Europa hätte nie akzeptieren dürfen, dass Google und Facebook die Dialoge zur Zustimmung oder Ablehnung ihrer Datenschutzbedingen nach ihren eigenen Maßgaben gestalten. Sie tun so, als müssten man zustimmen und die Bedingungen der DSGVO ablehnen, um ihre gewohnten Angebote weiter nützen zu können. Das war kompletter Nonsens. Man kann ein großartiges Gesetz haben, aber wenn man es nicht ordentlich implementiert, bringt es nichts. Die Dialogboxen sollten von der EU oder den Staaten vorgegeben werden. Sie sollten klarmachen: Diese Konzerne beschränken eure Auswahl, eure Freiheit. Sie schaden euren Kindern, sie zerstören die Demokratie. Sie verletzen eure Privatsphäre in jeder erdenklichen Weise. Wir wollen euch davor schützen. Wenn ihr den Status quo akzeptiert, dann schadet ihr nicht nur euch, sondern all euren Bekannten und Freunden.

STANDARD: Sie schlagen in Ihrem Buch als äußerste Maßnahme gegen Facebook und Google vor, die Konzerne zu zerschlagen. Jedenfalls sollte etwa Facebook gezwungen werden Instagram und Whatsapp wieder zu verkaufen.

McNamee: Zerschlagung ist die letzte Maßnahme von Wettbewerbspolitik – nicht die erste. Ein Anti-Trust-Prinzip ist: Wenn ein Unternehmen einen Markt, einen Vertriebsweg beherrscht, dann darf er dort seine eigenen Produkte nicht gegenüber anderen bevorzugen. Aber alle tun das – Amazon, Google, Facebook, Microsoft. Dagegen sollte man vorgehen. Und es gibt noch ein paar passende Anti-Trust-Maßnahmen aus der US-Geschichte. Etwa Marktbeherrschern Expansionsmöglichkeiten in neue Märkte zu untersagen. Das würde bedeuten, dass Google vielleicht doch keine selbstfahrenden Autos oder Smart Cities oder Services mit künstlicher Intelligenz entwickeln und vermarkten kann. Facebook könnte keine eigene Kryptowährung einführen. Man könnte die Konzerne zwingen, ihre Patente und anderes geistiges Eigentum kostenlos mit Start-ups zu teilen, womöglich auch einen Teil ihrer Infrastruktur für Firmen am Start zu teilen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Start-up, das mit einem guten Geschäftsmodell Facebook herausfordert, mit Facebooks Werbemöglichkeiten an seine ersten 100.000 Kunden kommen kann – kostenlos. Mit solchen Auflagen könnte man Wettbewerb bekommen. Heute ist das unmöglich für Start-ups. Das alles ergibt aber nur Sinn, wenn man zugleich die Kontrolle über die eigenen Daten zu einem Menschenrecht macht. Sonst hilft selbst Zerschlagung wenig. Wenn man vier Überwachungskapitalisten in je zehn Einheiten zerschlägt, hat man sonst 40 Überwachungskapitalisten – womöglich schlimmer als heute.

"Die Ironie ist: Die Überwachungskapitalisten machen letztlich der Werbebranche und den Werbekunden selbst Konkurrenz."

STANDARD: Man wird Behörden und Politiker mit ein bisschen Mut brauchen, um gegen Facebook, Google und Co mit tiefergehenden Anti-Trust-Maßnahmen vorzugehen...

McNamee: Anti-Trust-Maßnahmen brauchen keinen Mut. Aber es braucht Mut, Überwachungskapitalisten anzugreifen. Die Werbewirtschaft und ihre Kunden sind süchtig nach perfekter Information. Die Ironie ist: Die Überwachungskapitalisten machen letztlich der Werbebranche und den Werbekunden selbst Konkurrenz. Werfen Sie einen Blick auf die Suchergebnisse bei Amazon. Wenn es ein entsprechendes Produkt von Amazon Basic gibt, werden Sie es ganz oben finden. Und dann auch noch gefälschte, billige Markenware. Ich versuche das der Marketingbranche klarzumachen. In fünf Jahren übernimmt die meisten ihrer Jobs ein Server bei Amazon. Dasselbe gilt für die Finanz- und die Automobilbranche. Sämtliche deutsche Autohersteller sind in Kontakt mit Google, ob sie deren Apps in ihre Autos integrieren. Das ist Selbstmord.

STANDARD: Selbstfahrende Autos liefern Kundschaft für Marketing und Entertainment im Auto, wenn die Menschen bis zum Erreichen des Ziels wenig zu tun haben.

McNamee: Die Menschen brauchen Zufluchtsorte. Das Auto ist einer der letzten davon – wenn in der Wohnung, im Schlafzimmer ein Smart-TV oder Alexa oder ein anderer Lautsprecher lauscht.

STANDARD: Facebook ist auch für Politiker ein perfektes Marketinginstrument. Warum sollten sie also Social Media regulieren wollen?

McNamee: Das ist unser Problem. Aber in fünf Jahren leben wir alle unter einem Regime der Technologiekonzerne. Die Algorithmen von Google, Facebook, Amazon bestimmen unser Leben womöglich mehr als die Gesetze unserer Staaten. Das stellt die repräsentative Demokratie auf eine fundamentale Probe. Diese Demokratie ringt rund um die Welt um ihr Überleben. Und für diesen Überlebenskampf sind die Internetkonzerne wesentlich mitverantwortlich.

STANDARD: Durch Österreichs Medien und Medienpolitik schwirrte zuletzt die Frage: Sollen österreichische, sollen europäische Medien womöglich mit öffentlicher Unterstützung versuchen, eigene europäische Social-Media-Plattformen aufzubauen? Haben solche Projekte irgendeine Chance?

McNamee: Ich lebe nicht in Europa, ich kann das nicht einschätzen. Aber es gibt jedenfalls diesbezüglich keine technologischen Hindernisse, und ich fände eine solche europäische Initiative großartig. Ich bin aber nicht sicher, ob die Userinnen und User den Bedarf nach einer solchen Plattform erkennen – einer Plattform, die ihre regionalen Werte anerkennt und nicht den globalen Regeln von vier Konzernen folgt. Aber das Interesse an meinen Botschaften in bisher drei europäischen Ländern macht mir da durchaus Hoffnung.

"Bei künstlicher Intelligenz wird heute praktisch nur geforscht, wie sich Verhalten manipulieren lässt. Das verletzt jedes Grundprinzip westlicher Demokratien. Und das tun Facebook, Google, Amazon und Microsoft tagtäglich."

STANDARD: Wenn Sie 2019 in ein Social-Media-Start-up investieren wollten, wie würde es aussehen?

McNamee: Ich bin kein Investor mehr. Ich bin heute ein Vollzeitaktivist.

STANDARD: Dann raten Sie anderen Investoren, worauf sie achten sollten.

McNamee: Apple baut ein Geschäftsmodell rund um das Grundrecht auf Privatsphäre und persönliche Sicherheit. Sie greifen die Überwachungskapitalisten mit ihren Produkten an, und sie haben dafür auch die nötige Größe. Das zeigt, was man tun sollte. Man sollte den Menschen Rückzug und Privatheit ermöglichen. In der französischen Start-up-Community entwickelt sich ein "Slow Internet", das Privatheit und ihre Interessen wahrt, ohne Manipulation und ohne Hirn-Hacking. Diese Entwicklungen besinnen sich auf die ursprünglichen Werte des Silicon Valley, den Usern mehr Macht zu geben, und weg von den Visionen von Google und Facebook, die User nur als Treibstoff für Überwachungskapitalismus sehen. Es gibt Millionen von positiven Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Intelligenz. Aber heute wird nur geforscht, wie sich Verhalten manipulieren lässt. Das verletzt jedes Grundprinzip westlicher Demokratien. Und das tun Facebook, Google, Amazon und Microsoft tagtäglich. Das ist ihr Geschäftsmodell. Und sie argumentieren: Ihr könnt uns doch nicht regulieren – wir stehen im Wettbewerb mit China! Ich frage mich: Warum sollen wir in der Manipulation von Verhalten mit China konkurrieren? (Harald Fidler, 25.9.2019)