Das Interview findet an einem Vormittag im Wiener Café Prückel statt, und Philip Rachinger schlägt vor, Bier zu bestellen. "Es gibt eh genug Leute, die behaupten, dass wir nur an Saufen, Party und Drogen interessiert sind, denen schicke ich hiermit schöne Grüße!" Felix Schellhorn und Lukas Mraz finden das super.

Tatsächlich soll es das eine oder andere Instagram-Video geben, auf dem die drei Topköche sich nach getaner Arbeit in nicht ganz großmuttertauglicher Manier präsentieren. Auch ein Video, aufgenommen bei einem avantgardistischen Fressfestival in Italien, wo das Trio nach dem Service in Frauenkleidern und Perücken auf den Tischen tanzt, soll den einen oder anderen Branchenkollegen verstört haben.

Ingo Pertramer fotografierte die Healthy Boy Band – Lukas Mraz, Felix Schellhorn, Philip Rachinger – im Wiener Wurstelprater (v. li.)
Foto: Ingo Pertramer

Fürs Protokoll: Rachinger ist am Tag des Interviews vor Sonnenaufgang aufgestanden, hat in der Küche letzte Vorbereitungen für die Zeit seiner Abwesenheit getroffen, die Sachen gepackt und ist mit dem Zug nach Wien gefahren. Jetzt soll er die Idee hinter dem einigermaßen anarchisch anmutenden Kochkollektiv Healthy Boy Band erläutern, das er gemeinsam mit Mraz und Schellhorn ins Leben gerufen hat.

Dann geht's in den Prater, um die Bilder für die Story zu schießen, am Nachmittag darf er weiter, nach Kopenhagen. René Redzepi hat für den Abend im Noma einen Tisch für ihn und Vater Helmut freimachen können. Man will ja in Kontakt bleiben mit alten Freunden. Also: "Herr Ober, vier Bier!"

Zwei Jahre ist es her, dass mit Redzepi der wohl aufregendste Koch der Gegenwart in Rachingers Mühltalhof zu Gast war und mit Kollegen wie Chiho Kanzaki (Virtus, Paris), David Chang (Momofuku Ko, New York), Bo Songvisava (Bo Lan, Bangkok) oder Mauro Colagreco (Mirazur, Menton) für ein paar Tage das Mühlviertel zum Nabel der Welt des fortgeschrittenen Essens machte.

Zum Abheben: die international inzwischen meistbeachteten Köche des Landes Lukas Mraz, Felix Schellhorn und Philip Rachinger (von links nach rechts).
Foto: Ingo Pertramer

Verbindung zur Kunst

Lukas Mraz und Felix Schellhorn waren damals auch eingeladen, den kulinarischen Traditionen der Gegend nachzuspüren und, vor allem, gemeinsam (also ohne Hilfe von Sous-Chefs oder sonstigen Handlangern) ein einzigartiges Mahl zu kochen, das zwischen grandiosem Entertainment und schwindelerregender Experimentierfreude oszillierte. Die Healthy Boy Band hat sich unmittelbar danach unter dem Eindruck des Erlebten formiert.

"Da sind wir draufgekommen, wie flach und eindimensional der Diskurs ums gute Essen und den Stellenwert der Gastronomie bei uns oft abläuft – und wie sehr es uns Spaß machen würde, uns auch ein wenig mit anderen Dingen zu beschäftigen als nur mit dem, was am Teller ist", sagt Felix Schellhorn, der in zwei Jahren den Seehof seiner Eltern im salzburgischen Goldegg übernehmen wird – vorher aber noch ein Kunststudium an der Angewandten in Wien macht. "Weil ob zum Schnitzel jetzt Erdäpfelsalat oder Petersilkartoffeln gehören, kann ja keine abendfüllende Diskussion sein."

So entstand die Idee, sich zu organisieren und ein Narrativ zu entwickeln, innerhalb dessen schon auch dringliche Themen der Branche angesprochen werden können, aber auch die Verbindung zur Kunst gesucht wird.

Lust auf mehr: "Der Diskurs ums gute Essen und den gesellschaftlichen Stellenwert der Gastronomie wird bei uns in Österreich leider oft sehr eindimensional und flach geführt."
Foto: Ingo Pertramer

Und, so Lukas Mraz, "irgendwie zu probieren, die Art, wie in der deutschsprachigen Welt über Essen und Restaurants nachgedacht wird, ein bissl weiterzudrehen". Dass anarchischer Witz und ein gewisser Hang zu orgiastischer Ausschweifung nicht zu kurz kommen würden, war den dreien aber auch klar.

Nah am Wahnsinn

Das Happening bei den Rachingers hatte schließlich der italo-französische Kunst- und Restaurantkritiker Andrea Petrini organisiert, der mit seinen Veranstaltungen stets nah am Wahnsinn agiert, neben Spaß, verstörend gutem Essen und reichlich Alkohol aber immer auch Interventionen von Künstlern und gesellschaftspolitische Themen ins Zentrum des Erlebten stellt.

Beim Festival von Cook Inc. waren wieder einmal nur männliche Stars geladen – aus Protest traten die Healthy Boys in Frauenkleidern auf.
Foto: Zanshin Kuge

Im Mühltalhof war das der unverändert große Gender-Gap, der in den großen Küchen der Welt mindestens so ausgeprägt ist wie anderswo. Petrini bestand deshalb auf Geschlechterparität bei der Auswahl der Köche. Einige der ganz großen Namen, die bei dem legendär gut vernetzten Impresario sonst Kochmesser bei Fuß stehen, wurden deshalb gar nicht erst eingeladen. Er hob stattdessen grandiose Köchinnen aus Japan, Brasilien, Kanada oder China aufs Podest, die sonst allzu oft in der zweiten Reihe übersehen werden.

"Das hat uns irrsinnig getaugt", sagt Philip Rachinger, "es ist ja wirklich auffällig, wie schwer es den Frauen in unserem Beruf gemacht wird und wie massiv die Szene von Männern dominiert ist. Dabei war das vor gar nicht langer Zeit noch genau umgekehrt." Nur zum Beispiel sei es Rachingers Großmutter Walpurga gewesen, die das Renommée des familiären Betriebs mit ihrer sagenhaft köstlichen Küche ab den 1960er-Jahren so richtig begründet hat.

Foto: Ingo Pertramer

"Es ist völliger Blödsinn, dass Frauen dem Druck in großen Küchen nicht gewachsen sind", sagt Lukas Mraz, "die Atmosphäre ist nur so machohaft vergiftet, dass sie sehr oft einfach gemobbt werden – irrsinnig viel Talent und Können gehen auf diese Art verloren."

Dass die Herren bei oben erwähntem Kochfestival als Dragqueens auftraten, sollte deshalb nicht nur als blöder Schmäh (Schellhorn: "War es aber schon auch") verstanden werden, sondern ganz explizit auf den "Skandal" hinweisen, dass bei diesem Festival wieder einmal nur Männer eingeladen waren.

Im Gegensatz zu anderen Großköchen, die bei solchen Gastauftritten aus Prinzip mit fixfertig vorbereiteten Gängen anreisen, lassen die Healthy Boys es sich nicht nehmen, alles von Grund auf vor Ort zu kochen: "Darum soll es doch gehen", sagt Philip Rachinger, "mit Kollegen spontan eine Zusammenarbeit zu starten, sich gegenseitig zu inspirieren und auf die jeweilige Situation abzustimmen – nur so kann ich da auch für mich etwas mitnehmen."

Das kann ein 14-gängiges Ziegen-Menü sein, wie es die Buben gemeinsam mit Milena Broger, Lukas Nagl und Konstantin Filippou für ein Petrini-Event in Lyon gemacht haben – unter dem Motto "Goat save the Queen" und mit Gerichten wie "Massimo Tempura" aus Kitzinnereien.

Oder ein Neungänger im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst, wo die drei das Motto des hochgelehrten Abends von "Philosophisch dinieren" kurzerhand in "Philosophisch panieren" abänderten, ausschließlich Gebackenes servierten und die versammelten Eggheads darüber sinnieren ließen, was es wohl für das Ei bedeute, als Schnitzelbad in der Panierlade zu enden. "Die haben sich überhaupt nicht mehr ausgekannt", erinnert sich Schellhorn.

Knödel di Cornicione

Bei Massimo Botturas Almeni-Festival in Rimini kochten sie Knödel aus Pizzarand, den die Italiener ("Cornicione") meist übrig lassen und caterten Botturas private Strandparty spontan mit Kalbskopf-Eierschwammerl-Panini und Proll-Negronis in alten Wasserflaschen.

"Es geht nicht darum, ständig Highend-Kreationen rauszuschießen", sagt Philip Rachinger, "sondern vielleicht einmal zum Nachdenken anzuregen. Und, vor allem, die Freuden des Gastgebens hochleben zu lassen."

Mittlerweile werden die drei Ösi-Köche regelmäßig auf Koch-Happenings in ganz Europa herumgereicht, wo sie "fast immer" die einzigen deutschsprachigen Teilnehmer sind. "Es ist leider so, dass Österreich und Deutschland in der Welt des guten Essens nur am Rande vorkommen", sagt Mraz.

Hat natürlich nichts damit zu tun, dass unsere Traditionen international wenig attraktiv erscheinen, "da hätten Skandinavier, Slowenen oder Belgier ein viel größeres Problem – die verstehen aber, dass es längst um mehr geht, als nur perfekt zu kochen".

Dass Deutschland jenes europäische Land ist, in dem nach Frankreich seit Jahren die allermeisten Michelin-Sterne vergeben werden, hilft da wenig. "Die Relevanz der traditionellen Gourmet-Guides hat stark abgenommen", sagt Felix Schellhorn, "und das finden wir eigentlich gut so."

Für Massimo Botturas Almeni-Event in Rimini kochten die drei Knödel aus Pizzarändern: "Wär' ja schade drum!"
Foto: Zanshin Kuge

Während andere Kollegen sich ihre Michelin-Sterne buchstäblich vergolden lassen, hat etwa Lukas Mraz, nachdem er vergangenes Jahr die Küche im väterlichen Betrieb übernommen hat, den Aufkleber mit den zwei Sternen (wie auch die Auszeichnungen lokaler Guides) gleich einmal von der Eingangstür gekletzelt – und auch dann nicht wieder angebracht, als er sie im heurigen Jahr für seine eigene Küche erneut verliehen bekam: "Wir wollen nicht mit Auszeichnungen glänzen, sondern mit dem, was wir tun."

"Faux Millau"

Dazu passt gut, was die drei bei einem Happening im Musée Panacée im südfranzösischen Montpellier zeigten, wo die abermals neben Hyperstars wie Redzepi, Danny Bowien, Rodolfo Guzman oder Niko Romito geladen waren: "Da ging es darum, in Kollaboration mit bildenden Künstlern Arbeiten zu schaffen, die sich im weiteren Sinn mit Essen beschäftigen", erklärt Mraz, "wir haben einen eigenen Raum mit einem Farbkopierer aufgebaut, in dem wir die Arbeiten der anderen buchstäblich kopiert, mit unseren Namen versehen und verteilt haben."

Freibeuter der Herde: "Die Relevanz der traditionellen Gourmet-Guides wie Michelin oder Gault-Millau hat massiv abgenommen. Und das finden wir eigentlich gut so!"
Foto: Ingo Pertramer

Was als Beitrag zur Debatte um Original und Kopie in der Kunst, aber speziell auch in der feinen Küche gedacht war (und in Österreich bekanntlich besondere Brisanz hat), wussten die drei mit einem zusätzlichen Gag zu versehen: "Die Installation dieses ,Best Copy Shops' haben wir beim Eingang mit Aufklebern der großen, renommierten Restaurantguides versehen", lacht Mraz.

Nur halt mit minimal veränderten Namen und Symbolen: "Faux Millau", "Oral" (statt des deutschen Aral-Guides, Anm.) und vier Michelin-Sternen statt der sonst maximal vergebenen drei.

Überall, nur bei uns nicht? Nicht ganz: In Österreich werden die drei im Oktober erstmals mit einem Happening zu Gast sein, das sie gemeinsam mit dem holländisch-deutschen Kunstkollektiv Steinbeisser gestalten. "Da wird es ganz altmodisch ums Essen gehen", sagt Rachinger.

Stimmt natürlich nur halb: Die drei werden in der Krieau ein vielgängiges Gourmetmenü im Rahmen der Experimental Gastronomy Initiative kochen, allerdings rein vegan: "Wir müssen schön langsam weg von dem ganzen Fleischwahn." Genossen wird das alles mit mehr als eigentümlichen Besteckkreationen, die Steinbeisser bei bildenden Künstlern in Auftrag gibt.

Dass man mit denen "ganz frisch lernen muss, wie Essen geht", ist ein essenzieller Teil der Erfahrung. Aber dieses Projekt wird an dieser Stelle in der kommenden Woche gesondert besprochen – selbst wenn der Abend, wie nicht anders zu erwarten, schon seit Monaten ausverkauft ist. (Severin Corti, RONDO, 27.9.2019)

Lukas Mraz, 29, betreibt mit Vater Markus und Bruder Manuel das Zwei- Sterne-Restaurant Mraz & Sohn im Wiener Arbeiterbezirk Brigittenau. Davor kochte er die Cordobar zur bis dahin heißesten Adresse Berlins hoch. Hat bei Jonnie Boer in den Niederlanden gelernt.
Mraz & Sohn, Wallensteinstr. 59, 1200 Wien
www.mrazundsohn.at
Foto: Ingo Pertramer
Felix Schellhorn, 26, kocht im Seehof Goldegg (zwei Hauben), wenn er nicht gerade in Wien Kunst studiert. Schupfte in Bad Gastein die Frühstückspension "Hansi, Hansi" und war davor auf Wanderschaft in Küchen zwischen Istanbul, Hamburg, Wien, Paris und Lima. Wird das familieneigene Hotel 2022 übernehmen.
Der Seehof, Hofmark 8, 5622 Goldegg
www.derseehof.at
Foto: Ingo Pertramer
Philip Rachinger, 30, kocht im familieneigenen Betrieb Mühltalhof in Neufelden (drei Hauben). War davor jahrelang in Paris und London in gefeierten Restaurants wie dem Saturne von Sven Chartrin oder dem Ten Bells von Isaac McHale und bei der Pariser Kochlegende Pierre Gagnaire zugange.
Mühltalhof, Unternberg 6, 4120 Neufelden
www.muehltalhof.at
Foto: Ingo Pertramer