Vor etwa 50 Millionen Jahren begannen Säugetiere aus einer Gruppe früher Paarhufer das Leben im Wasser gegenüber jenem an Land zu bevorzugen. Heute geht man davon aus, dass ein gravierender Klimawandel im Eozän sie ins Wasser zurück getrieben hat. Nur wenige Millionen Jahre später hatten Vertreter dieser Tiergruppe bereits durchaus Ähnlichkeit mit ihren modernen Nachfahren, den Walen.

Protocetus atavus lebte vor etwa 45 Millionen Jahren und glich schon weitgehend modernen Walen.
Illustr.: Nobu Tamura

Dieser dramatische Wechsel in der Lebensweise war von tiefgreifenden anatomischen, physiologischen und verhaltensbezogenen Anpassungen begleitet, die letztlich das Leben im Wasser erst ermöglichten. So entwickelten Wale und Delfine stromlinienförmige Körper und verloren ihre Körperhaare, um schneller schwimmen zu können. Sie legten sich dicke Fettpolster zum Schutz gegen Kälte zu. Ihre Beine gingen verloren, während sich große Schwanzflossen zum Antrieb ausbildeten. Vergrößerte Sauerstoffspeicher ermöglichen ihnen lange Tauchgänge und ein flexibler Brustkorb erlaubt, dass ihre Lunge während Tauchgängen in Tiefen von 100 Metern und mehr kollabieren kann.

Weniger ist mehr

Welche Veränderungen in der DNA diesen Anpassungen zugrunde liegen, ist aber noch weitgehend ungeklärt. Daher suchten internationale Forscher nun systematisch nach Genen, die bei den Vorfahren von Walen und Delfinen verloren gegangen sind. Das Team um Michael Hiller vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik entdeckte mehrere Dutzend Genverluste. Einige der verlorenen Gene waren offenbar nicht nur einfach obsolet geworden, der Verlust hat den Walen wahrscheinlich sogar geholfen, sich an ihre neue Umgebung anzupassen.

Für ihre im Fachjournal "Science Advances" präsentierte Studie untersuchten die Wissenschafter die Genome der heutigen Wale, Delfine und anderer Säugetiere auf Mutationen, die Gene deaktivieren. "Wir haben nach Mutationen gesucht, die bei allen Walen und Delfinen vorkommen, aber nicht bei Nilpferden oder anderen Landsäugetieren. Diese Mutationen deuten darauf hin, dass das jeweilige Gen bei den Walvorfahren verloren gegangen sein muss", erklärt Matthias Huelsmann, Hauptautor der Studie.

Verluste, die sich bezahlt gemacht haben: Viele Gene, die heutige Wale nicht mehr besitzen, waren für das Leben im Wasser eher schädlich als nützlich.
Foto: APA/AFP/MIGUEL MEDINA

85 verlorene Gene

Insgesamt 85 Genverluste wurden in dieser systematischen Suche entdeckt. Viele dieser Gene gingen wahrscheinlich verloren, weil ihre Funktion nicht mehr gebraucht wurde. Beispielsweise wird Speichel im Wasser nicht mehr benötigt, um Nahrung zu schlucken. Das erklärt vermutlich, warum ein Gen, was an der Speichelsekretion beteiligt ist, verloren ging.

"Ein Genverlust, den wir entdeckt haben, verbessert aber auch die Fähigkeit von Walen, eine bestimmte Art von DNA-Schaden zu reparieren. Dieser wird durch den erheblichen Sauerstoffmangel beim Tauchen verursacht. Wird die DNA nicht ordnungsgemäß repariert, kann dies zu Tumoren führen oder andere negative Folgen haben", berichtet Huelsmann. Die Verluste anderer Gene schützen Wale vermutlich vor der Bildung von Blutgerinnseln und vor Lungenschäden beim Tauchen.

Melatoninverlust verhalf zu spezieller Schlafweise

Aber es veränderten sich nicht nur Anatomie und Physiologie von Walen und Delfinen, sondern auch bestimmte Aspekte ihres Verhaltens. Insbesondere ist es im Ozean schwierig, längere Zeit zu schlafen, da die Tiere regelmäßig zum Atmen auftauchen müssen. Dies führte dazu, dass bei Walen und Delphinen jeweils nur eine Hälfte des Gehirns schläft, während die andere Hälfte Bewegung und Atmung koordiniert. Die Studie zeigte darüber hinaus, dass alle Gene, die zur Bildung des schlafregulierenden Hormons Melatonin benötigt werden, bei Walen und Delfinen verloren gegangen sind. Diese Genverluste könnten eine Voraussetzung gewesen sein, sich diese spezielle Schlafweise anzueignen.

"Wir haben neue Hinweise gefunden, dass der Verlust von Genen während der Evolution manchmal von Vorteil sein kann", fasst Hiller zusammen. "Das bestätigt auch frühere Ergebnisse unserer Forschungsgruppe, dass der Verlust von Genen ein wichtiger evolutionärer Mechanismus ist." (red, 27.9.2019)