Geschmacksintelligentes Auftreten: Herbert Lachmayer.

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Geschmacksintelligenz meint Erkenntnis auf den ersten Blick. Begegnen wir beispielsweise Konkurrenten und Konkurrentinnen, geschäftlich oder privat, zum allerersten Mal, dann lässt uns im Bruchteil eines Augenblicks das schnellstmögliche Urteil unserer Geschmacksintelligenz einschätzen, mit wem wir es zu tun haben – und worin unsere Chance zur Überlegenheit besteht.

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Diesem Einschätzungsvermögen prima vista verdankt sich nicht nur so mancher Erfolg unseres Handelns, es betrifft unsere Lebensgestaltung insgesamt. Diese vor allem auch ästhetische Urteilsfähigkeit folgt keineswegs der Logik einer exklusiven Rationalität, welche dem Anspruch genügen will, die Wirklichkeit immer und überall objektivieren zu müssen, selbst wenn es kaum Sinn macht.

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Gefühl, Fantasie und Imagination hingegen entziehen sich weitgehend der Deutungsmacht des rationalen Erklärungsnotstands und behaupten die Domäne des "bloß Subjektiven" erfolgreich für sich. Der Fähigkeit zur Geschmacksintelligenz verdanken wir ein Gleichgewicht von bewusst und unbewusst, von rational und irrational, von diskursiv und intuitiv etc. All dies in seiner differenzierten Widersprüchlichkeit in Balance zu halten ermöglicht ein Leben mit ästhetischer Reflexion.

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Subtile Attacken

Dabei ist Geschmacksintelligenz keineswegs mit dem endlosen Disput vom "guten" versus den "schlechten" Geschmack gleichzusetzen. Das ewige Gerangel um "guten" versus "schlechten" Geschmack verdeckt die Einsicht in unsere Kompetenz der geschmacksintelligenten Urteilskraft mehr, als diese zu erklären.

Allerdings zeigt schon die Brisanz (die solchen Konkurrenzierungen meist zugrunde liegt) auf, welch große Bedeutung Geschmacksurteile in unserem Leben haben, etwa wenn es um Akte unserer Selbstdarstellung geht. Da vermag eine abschätzige Nebenbemerkung über ein Outfit schmerzlicher zu treffen als etwa der moralisierende Vorwurf von Charakterlosigkeit, auf die wir gegebenenfalls noch stolz sein mögen, insbesondere dann, wenn die vorgetragene Attacke die Subtilität der uns möglicherweise zu Recht unterstellten Gemeinheit gar nicht erst zu würdigen wusste.

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Alledem liegt Geschmacksintelligenz als das Urteilsvermögen einer durchschauenden Vernunft zugrunde, die soziale, psychologische Realität analysierend zu erfassen vermag, eben auf den ersten Blick.

Nehmen wir die Nationalratswahl zum Exerzierfeld des Begriffs Geschmacksintelligenz. Wird doch das ästhetische Wahrnehmungsvermögen der Wähler und Wählerinnen durch ein höchst vielfältiges Repertoire multimedialer Bespielung gleichsam hochgekitzelt, um deren projektive Fantasie zu erwecken.

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Sollen sie doch Zukunftspotenziale selbst dort vermuten, wo es definitiv keine gibt. Die diversen Manipulationsstrategien zu durchschauen verlangt nach Geschmacksintelligenz. In aufklärerischer Absicht kann einem dadurch das Panoptikum wahltechnischer Beeinflussung schlagartig klar werden, wenn man die Kontexte zu interpretieren weiß. Geschmacksintelligenz erfordert von uns ständige Lernprozesse im kritischen Durchschauen ästhetischer Erscheinungsbilder politischer Absichten, etwa in der Plakatgestaltung.

Eine kritische Revision dieser stets wertenden Kontextualisierungen gelingt erst dann, wenn man diese immer wieder neu am ästhetischen Erscheinungsbild zu reflektieren vermag. Geschmacksintelligenz verfeinert die Sensorien zur Kritik auf der Realitätsebene der Ästhetik. So kann die parlamentarische Demokratie um die Möglichkeitswelt der Einbildungskraft erweitert werden. (Herbert Lachmayer, 28.9.2019)