Treffen in der Fantasiewelt: Harper Pitt (Sophie Rennert, re.) begegnet Prior Walter (David Adam Moore)

Armin Bardel

Vor einer filmisch erweckten riesigen windverwehten US-Flagge thront ein derber Zeitgenosse an einem Tisch voller Telefone. Er ist der emsige und empathiefreie Lobbyist seiner Interessen, der sich später weigern wird, zu akzeptieren, an Aids erkrankt zu sein. Was immer der Arzt ihm diagnostisch darlegt, für Roy Cohn (eindringlich: Karl Huml) stellt sich die Symptomatik – da gesellschaftlich akzeptabel – als Leberkrebs dar.

Am Totenbett

Diese Realitätsverweigerung ist für Cohn der Beginn jener halluzinatorischen Reise, die in Peter Eötvös’ Oper Angels in America (nach Tony Kushners gleichnamigem Stück) auch andere Figuren antreten werden, um ihren Ängsten und Wünschen zu begegnen. An Cohns Kranken- und schließlich Totenbett erscheint etwa Ethel Rosenberg, die er einst auf den elektrischen Stuhl gebracht hat und die ihn nun sterben sieht.

Harper Pitt (Sophie Rennert), deren Gatte Joseph (Wolfgang Resch) nur langsam zu seiner Homosexualität findet, fantasiert sich wiederum pillensüchtig eine Eislandschaft herbei. Und der aidskranke Prior Walter (intensiv: David Adam Moore), den Freund Luis (sensibel: Franz Gürtelschmied) verlassen hat, wird von einem Engel besucht (fulminant: Caroline Melzer), der ihn zum Propheten umzuformen gedenkt.

Der sprechende Gesang

All diese Episoden werden von Peter Eötvös (er war bei der Premiere zugegen) mit elegantem Sprechgesang aufgearbeitet (der Engel darf lyrisch hauchen). Und dieser Stil trägt die halluzinatorische Auseinandersetzung der Figuren mit ihren Zuständen ohne extreme Expressivität Richtung Selbsterkenntnis.

Die in 17 Szenen gebündelten Ereignisse finden sich dabei gleichsam von einer orchestralen Welt ummantelt, die als dahinschwebende Wolke Atmosphäre und Grundspannung liefert. Das formidable Amadeus-Ensemble Wien unter Dirigent Walter Kobera lässt die Details trotzdem nicht verblassen. Schließlich weist die orchestrale Flächigkeit subtile farbliche Abstufungen auf und setzt bisweilen auf einander überlagernde Strukturen: Das Orchester changiert sensibel zwischen der Entfaltung von Klangaura und dem Setzen markanter instrumentaler Pointen.

Den Ausweg suchen

Regisseur Matthias Oldag nutzt die dezente orchestrale Diktion und verleiht auch den Figuren unaufgeregt prägnantes Profil. Ihre Begegnungen mit den eigenen Fantasiegeschöpfen entbehren dabei nicht eines gewissen skurrilen Humors. Das Quälende jener Grenzsituationen, aus denen die Figuren Auswege suchen, wird dadurch jedoch keinesfalls nivelliert oder effekthascherisch aufgedonnert.

In Summe gelingt ein zwischen Realität und Halluzination wanderndes Kammerspiel, in dem Einsamkeit so schmerzhaft spürbar wird wie gesellschaftlicher Druck. Selbst zum Schluss hin, wenn sich das Aufbegehren gegen Gott aus Prior Walter zornig entlädt, bleibt ein entschleunigter Eindruck. Das wirklich Eindringliche muss eben nicht lärmend auftrumpfen. (Ljubiša Tošić, 27.9.2019)