Wochenlang haben STANDARD-Reporter die Wahlkämpfer beobachtet und Bemerkenswertes aufgeschrieben. Lesen Sie heute die letzten zwei Teile unserer Langzeit-Beobachtungen der Kandidaten im Wahlkampf.

Ihr Strategiewechsel kommt unerwartet und trifft Sebastian Kurz wie ein Fausthieb in die Magengrube. "Wos?", unterbricht er sie ungläubig. Es ist der Moment, der im Wahlkampf der SPÖ einen Wendepunkt darstellt. Pamela Rendi-Wagner weiß das, sie muss jetzt gut sein, sie ist auf Angriff gebürstet. Live im Fernsehen skandiert sie: Man könne Kurz nicht trauen. Er plaudere Vertrauliches aus. Erst vor wenigen Tagen habe sie mitbekommen, wie der Altkanzler seinen Sprecher angestiftet habe, eine Fiebererkrankung von FPÖ-Chef Norbert Hofer an die Presse zu ventilieren. "So geht man nicht mit Menschen um." Die Sozialdemokratin kneift die Augen zusammen.

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Sebastian Kurz und Pamela Rendi-Wagner im ORF-Zentrum am Küniglberg.
Foto: REUTERS/LEONHARD FOEGER

Der Auftritt ist irritierend – nicht nur für Kurz. Monatelang arbeitet Rendi-Wagner daran, die Saubere, die Faire, die Sympathische zu sein. Ihr Team hält sich konsequent zurück, andere Parteien scharf zu attackieren, selbst wenn sich eine Spitze aufdrängt. Bloß kein Dirty Campaining, ja nicht an "Silberstein-Methoden" erinnern. Wir sind die Guten, ist die Devise. Doch die Umfragewerte bleiben stabil niedrig.

In der Löwelstraße 18, dem roten Hauptquartier, breitet sich Panik aus: Führt man die Sozialdemokratie gerade wie ein frommes Lamm zur Schlachtbank? Ihr erstes TV-Duell gegen Kurz nutzt Rendi-Wagner deshalb, um eine andere Seite zu zeigen: Sie kann auch angriffig, neckisch und hart sein. Das wirkt mitunter auch hämisch, herablassend, kalt.

An diesem Tag schreiben wir "T minus 11", wie Wahlkampfstrategen in Anlehnung an Countdowns bei Raketentests die verbleibende Zeit bis zur Deadline berechnen. Das bedeutet: In elf Tagen wird gewählt – und Pamela Rendi-Wagner hat eine holprige politische Reise hinter sich.

  • T minus 135 – 17. Mai 2019, Tag der Ibiza-Video-Enthüllung:

Es ist, wenn man so will, der erste Tag des Nationalratswahlkampfes 2019, aber das weiß Rendi-Wagner zu diesem Zeitpunkt noch nicht. 18.36 Uhr, die SPÖ-Chefin sitzt am Steuer des Familienwagens, um ihre Tochter von einer Schulfreundin abzuholen. Auf ihrem Handy poppt eine Alarmmeldung der Nachrichtenagentur auf. "Verdeckte Parteispenden: Videoaufnahmen belasten Strache." Sie stutzt.

DER STANDARD hat die SPÖ-Chefin im Wahlkampf und auf ihrer Österreich-Tour begleitet.
Foto: Heribert Corn

Die Wiener Medienszene wartet bereits seit Stunden auf die Enthüllung. Schon am späten Vormittag ging das Gerücht um, dass "Süddeutsche Zeitung" und "Spiegel" am Abend belastendes Material über Vizekanzler Heinz-Christian Strache veröffentlichen wollen. Bis zur SPÖ hat sich das nicht durchgesprochen. Die Sozialdemokraten sind an diesem Tag vorerst mit anderem beschäftigt: Es gibt ein Datenleck in der Parteizentrale.

Passwörter für Parteiaccounts auf Twitter, Youtube und Whatsapp wurden am Vortag an die "Kronen Zeitung" gespielt – mitten im EU-Wahlkampf eine fleischige Geschichte für den Boulevard.

Doch am späten Nachmittag erreicht die SPÖ die Nachricht, dass die auflagenstärkste Tageszeitung die rote Datenleck-Story nicht weiterverfolgen will – es gebe eine heißere Geschichte. Darauf stoßen die Mitarbeiter der Parteizentrale in einem Lokal ums Eck an. Sie sitzen ahnungslos bei Bier und Spritzern, als der Zerfall der ihnen so verhassten türkis-blauen Bundesregierung einsetzt.

Rendi-Wagner sagt, sie habe die Dimension der Causa zumindest in ihren Grundzügen schon während der kurzen Autofahrt erfasst. "Ich habe gewusst, da kommt jetzt etwas Großes auf uns zu." Sie bringt ihre Tochter nach Hause und fährt sofort zurück in die Löwelstraße. Um 19.59 Uhr fordert die Sozialdemokratin Straches Rücktritt. Sie erinnert sich: In dieser Nacht hat sie kaum ein Auge zugemacht. Tags darauf wird Türkis-Blau I Geschichte sein.

  • T minus 130 – 22. Mai 2019, Angelobung der Übergangsregierung Kurz:

Er tut es wirklich. Die rote Führungsriege kann es kaum glauben. ORF-Liveübertragung aus der Hofburg, 13 Uhr. Bundespräsident Alexander Van der Bellen gelobt die von Kurz vorgeschlagenen Übergangsminister an – und das, obwohl Rendi-Wagner ihm in Vorgesprächen deutlich gemacht hat: Eine Alleinregierung des ÖVP-Chefs wird sie nicht stützen. Die rote Argumentation: Kurz hat mit dem Verlust seines Koalitionspartners die Mehrheit im Parlament verloren und damit die Macht eingebüßt, sich alle Minister auszusuchen.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Rendi-Wagner in der Hofburg.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Viele in der SPÖ sind zutiefst enttäuscht von dem ehemaligen Grünen-Politiker, dass er die Pläne des jungen Kanzlers trotz allem abnickt. Öffentlich sagen will das aber niemand. "In Österreich kann man nur verlieren, wenn man den Bundespräsidenten angreift", beklagt ein führender Sozialdemokrat. "Kurz hat Van der Bellen 18 Monate lang umgarnt und ihm das Gefühl gegeben, er höre auf ihn. Inzwischen sitzt er fest auf dem Schoß des Präsidenten, dem wir damals in sein Amt geholfen haben."

Noch an diesem Abend beschließt Rendi-Wagner, dass die SPÖ der neuen Regierung von Kurz das Misstrauen aussprechen muss – und dass sie ein unabhängiges Expertenkabinett einsetzen möchte. Doch sie sitzt nicht fest genug im Sattel, um die Entscheidung allein zu treffen. Sie will sich in der Partei absichern. Vier Tage lang führt sie Gespräche – mit dem Klub, roten Landeshauptleuten, Parteigranden, auch mit Altpräsident Heinz Fischer -, ehe sie ihren Entschluss bekanntgibt. Medial wird ihr das lange Zuwarten als Schwäche ausgelegt.

  • T minus 66 – 25. Juli 2019, Wahlkampftourstopp Graz:

Zwei Monate später, der Frühwahlkampf läuft an. Rendi-Wagner greift nach ein paar Rispen Tomaten und reicht sie der Bäuerin auf der anderen Seite des Marktstandes. "Gar nicht fürs Foto, sondern wirklich" wolle sie Gemüse kaufen und am Abend mit nach Wien nehmen. Um sie herum scharen sich Fotografen, ein Kamerateam für einen Imagefilm, Lokaljournalisten, Landespolitiker und ihre siebenköpfige Entourage. Seit einer halben Stunde läuft sie über den Markt auf dem Grazer Lendplatz, lächelt, lacht, grinst und versucht, den Menschen SPÖ-Politik schmackhaft zu machen wie frisches Gemüse.

Den ganzen Frühwahlkampf lang war die Chefsozialdemokratin unterwegs durch Österreich – hier in Graz.
Foto: Alexander Danner

Als die Bäuerin unter die Budel greift und ein Papiersackerl hervorkramt, bricht im roten Gefolge Hektik aus. Die Landwirtin, unbeirrt, packt die Paradeiser ein. "Nein. NEIN!", ruft jemand. Das Sackerl, das sie Rendi-Wagner in die Hand drücken will, ist nicht nur türkis, es steht auch noch groß "Team Volkspartei" darauf. "Entschuldigung, das geht nicht", sagt Rendi-Wagner verlegen. Hilfesuchend linst sie zu ihren Mitarbeitern. Die Bäuerin weiß nicht recht, wie ihr geschieht, das Sackerl war halt gerade da. Ihre Kollegin treibt dann ein weißes auf.

"Eigentlich eine gute Idee mit so Parteisackerln, sollten wir auch andenken", witzelt die Chefsozialdemokratin später, als sie wieder unter Vertrauen, entspannt ist.

Es ist die Zeit, in der Rendi-Wagner langsam Tritt fasst. Bis vor kurzem wurde sie laufend infrage gestellt – von Journalisten, von Gegnern, vor allem von ihrer eigenen Partei. Gerüchte, sie könnte bald abgelöst werden, hielten sich hartnäckig. Sie blieb, aber natürlich hinterlässt Kritik Spuren. Ihr einziger langjähriger Freund in der Partei ist Thomas Drozda, den sie zum Gram vieler Sozialdemokraten zum Bundesgeschäftsführer ernennt. Ihr größtes Problem: Als Quereinsteigerin verfügt Rendi-Wagner über keine Machtbasis in der SPÖ. Das macht sie verletzlich und anfällig. Selbst für kleine Hoppalas wird sie auch von Parteifreunden mit Häme bedacht.

  • T minus 49 – 11. August 2019, Saint-Tropez-Wien:

Ein ÖVP-Funktionär fotografiert die SPÖ-Chefin heimlich in einem exklusiven Strandlokal in Staint-Tropez – und verbreitet das Bild in sozialen Medien. Es wird vom politischen Gegner genüsslich geteilt, der Boulevard greift die Geschichte auf. "Was halten Sie von Rendis Luxus-Urlaub", fragt "oe24.at" seine Leser. Auch in der SPÖ greifen sich viele an den Kopf.

Rendi-Wagner und ihr enger Vertrauter, der rote Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Auf Twitter wird diskutiert, ob es wirklich nötig war, dass die Chefsozialdemokratin mitten im Wahlkampf ein so elitäres Urlaubsziel wählt. Den Freiheitlichen spielt das in die Hände. Sie arbeiten seit Wochen daran, die SPÖ-Chefin als abgehoben darzustellen. Jetzt geht die Strategie so richtig auf: Selbst in ihrem ORF-Sommergespräch muss sie sich noch für die Reise rechtfertigen.

Dabei ist Rendi-Wagner ein Lehrbeispiel für den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen. Die Geschichte ihrer Herkunft wird sie künftig noch oft erzählen.

  • T minus 30 – 30. August 2019, Wahlkampfauftakt Wien-Favoriten:

"Ich bin nervös", flüstert Rendi-Wagner ihrem Sprecher zu. Dagegen helfe, vor ein paar Hundert Leuten eine Rede zu halten, witzelt der. Sie verdreht die Augen, lächelt und geht hinaus auf die Bühne. Vor ihr liegt der Wiener Viktor-Adler-Markt. Drei U-Bahn-Stationen entfernt ist Rendi-Wagner aufgewachsen. Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte die SPÖ-Chefin mit ihrer alleinerziehenden Mutter in der Per-Albin-Hansson-Siedlung. Jetzt steht sie als Stargast am Pult und berichtet von ihrer Zeit in diesem Gemeindebau.

Wahlkampfauftakt am Viktor-Adler-Markt, drei U-Bahn-Stationen entfernt lebt Rendi-Wagner für einige Jahre als Kind.
Foto: Heribert Corn

Man könnte sagen, Rendi-Wagner ist das personifizierte Dilemma der SPÖ: War die Sozialdemokratie im Leben eines Menschen erfolgreich, macht sie sich überflüssig. Rendi-Wagner bekommt als Kind einer Sekretärin alle notwendigen Chancen – und nützt sie: Sie geht aufs Gymnasium, sie kann Medizin studieren, sie promoviert, arbeitet an internationalen Universitäten, wird Spitzenbeamtin. Sie hat es geschafft.

Die Familie, die sie gründet, ist dadurch nicht mehr auf sozialen Wohnbau angewiesen, für ihre Töchter wären Studiengebühren keine Frage der Leistbarkeit, und Pflege im Alter kann sie sich auch selbst bezahlen. Die SPÖ hat ihre Dienste für Pamela Rendi-Wagner getan. Heute kann sie nurmehr für andere kämpfen.

Beim Wahlkampfauftakt fordert sie Chancen, faire Löhne und leistbares Wohnen. Sie spricht auch das langjährige rote Frustthema an: Migration. "Integration vor Zuzug", Außengrenzschutz, Hilfe vor Ort sind ihre Schlagworte, die sich von jenen der ÖVP eigentlich kaum unterscheiden. Dann feiert der SPÖ-Wahlkampfsong seine Favoritener Weltpremiere.

Die SPÖ-Chefin präsentiert ihren Wahlkampf-Song: "Gleich und verschieden" schafft es später an die Spitze der Schlagercharts.
Foto: Heribert Corn

Als die neue rote Hymne zum dritten Mal abgespielt wird, singen die ersten SPÖ-Fans auf dem Viktor-Adler-Markt lauthals mit. Pamela Rendi-Wagner ist die mit Abstand die Textsicherste auf dem Platz, doch sie bewegt sich steif. Doris Bures, die zweite Nationalratspräsidentin, kompensiert mangelnde Songkenntnisse daneben mit großen Ausfallschritten, mit den Armen macht sie die Lokomotive.

Das Lied, das selbst in der SPÖ viele an jenen Pophit erinnert, den der Komiker Jan Böhmermann von Schimpansen schreiben ließ, wurde von "Alf und DJ Mike" eigens für Rendi-Wagner komponiert. Drei Wochen später landet "Gleich und verschieden" auf Platz eins der heimischen Schlagercharts. Erst dann wird in der SPÖ auffallen: Das Plattenlabel der Künstler heißt "St. Tropez Records". Als hätte es der politische Gegner erfunden.

DER STANDARD/APA
  • T minus 29 – 31. August 2019, Wahlkampftourstopp Lengenfeld:

Neuer Tag, neues Bundesland. Heute: Niederösterreich. "Neunundneunzig Prozent do san eh Rote", beruhigt der junge Mann aus der Landespartei ungefragt die rote Spitzenkandidatin. "Und die Stimmung is super, wie immer, wenn es ein Hendl gibt." Er grinst. Rendi-Wagner und ihr kleiner Mitarbeitertross stehen auf einem vor langer Zeit aufgelassenen Sportplatz in Lengenfeld. Es ist ein brütend heißer Spätsommertag. Der Pensionistenverband hat einen Wandertag organisiert.

Eigentlich hätte Rendi-Wagner mitspazieren sollen, doch der Terminkalender, es ist sich nicht ausgegangen. Jetzt gibt es Limo, Bier und Mittagessen in einem riesigen weißen Festzelt. Der rote Landesparteichef Franz Schnabl tänzelt mit einer Zigarre über das karge Gelände und klopft Schultern. Auch Rendi-Wagner tätschelt er mehrmals mutmachend.

Auf die Bühne wird die Chefsozialdemokratin als "unsere Pämela Rändi" gebeten. Zuvor wurde die niederösterreichische Listenzweite Sonja Hammerschmid vom Moderator als "Silvia" tituliert. Rendi-Wagner bringt das alles nicht mehr aus dem Konzept. Laut rotem Strategiepapier ist sie gerade in der Phase, in der sie viel über "Chancen und soziale Sicherheit" reden soll – verknüpft mit den Geschichten von Menschen, die sie bisher getroffen hat.

Rendi-Wagner, die Ärztin, die Wissenschafterin, die eigentlich nie Politikerin werden wollte, spricht frei und laut in das rauschende Mikro. Sie schaut dabei auf ein paar Hundert Brathuhn und Kartoffelsalat kauende Pensionisten. Die wenigsten hören zu. Wahlkampf, das weiß Rendi-Wagner inzwischen, bedeutet viel Schweiß und wenig Dank.

  • T minus 29 – 31. August 2019, Wahlkampftourstopp Untersiebenbrunn:

Nächster Halt: Familienfest. Auf einer großen Wiese wurde ein hoher Berg Sand aufgeschüttet. Darauf sitzen Kinder, die mit bunten Förmchen Kuchen backen. Kracherln und weißen Spritzer gibt's um etwas mehr als einen Euro, aus den Lautsprechern der Kinderfreunde-Veranstaltung dröhnen Schlager: "Komm hol das Lasso raus", die "Polonäse Blankenese", dazwischen "Geh doch zu Hause, du alte Scheiße", ein Hit von Mickie Krause. Auch hier gibt es Hendl, die Stimmung ist gut.

DER STANDARD

Rendi-Wagner läuft von Biertisch zu Biertisch, schüttelt Hände, nickt, hört zu, lässt Selfies mit sich machen. Die Wahlfahrt durch Österreichs Städte, Gemeinden und Ortschaften hat ihr politisches Selbstverständnis gestärkt. So verkrampft und hölzern Rendi-Wagner oft im Fernsehen und bei Interviews wirkt, so locker ist sie im Umgang mit "den echten Menschen", wie Wahlkampfberater die gemeine Bevölkerung nennen.

Beim Mittagessen mit ihren Mitarbeitern unterhält sie den ganzen Tisch, nimmt ihren Pressesprecher auf den Arm, bestellt ihr Schwammerlgulasch mit Knödeln mit den Worten: "Heute einmal kein Cordon bleu" – und grinst spöttisch. Die Chefredakteurin des "Kurier" hatte Rendi-Wagner ein paar Tage zuvor unterstellt, sich "eher nur von ein paar Salatblättchen" zu ernähren.

Was hemmt die SPÖ-Chefin, sobald sie vor die Kameras tritt? Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit – als Rendi-Wagner die Partei übernahm.

  • Rückblick – Weihnachtsferien 2018:

Es ist ein milder, verregneter Dezember. Österreich liegt im Winterschlaf. Pamela Rendi-Wagner wurde vor einem Monat zur ersten weiblichen Vorsitzenden der SPÖ gewählt. Schon schlittert sie in eine parteiinterne Krise. In einem "ZiB 2"-Interview erwähnt sie, dass aus ihrer Sicht für Vermögenssteuern gerade nicht der richtige Zeitpunkt sei. Die Menschen müssten jetzt erst einmal entlastet werden.

39 Tage lang tourte Rendi-Wagner durch Österreich, allein in den letzten drei Wochen absolvierte sie 19 TV-Auftritte.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Mehr braucht es nicht. Sämtliche rote Parteigranden rücken über den Jahreswechsel aus, um die Quereinsteigerin in die Schranken zu weisen: Für Sozialdemokraten gibt es keinen falschen Zeitpunkt, um Millionäre zu schröpfen, so der Duktus.

Was Rendi-Wagner dadurch schnell und schmerzhaft lernt: lieber immer vorsichtig sein. Von diesem Zeitpunkt an wird sie in politischen Analysen als "übercoacht" beschrieben, weil sie so unlocker formuliere.

Vielmehr stimmt: Rendi-Wagner, die ihr ganzes ziviles Berufsleben lang Fachexpertin war, ist einfach nicht sattelfest in vielen sozialdemokratischen Themengebieten. Der SPÖ trat sie erst wenige Tage vor ihrer Angelobung als Ministerin im Jahr 2017 bei – nun haben ihre Genossen sie bis zur Unkenntlichkeit verunsichert.

  • T minus 29 – 31. August 2019, Wahlkampftourstopp Stockerau:

Acht Monate später, Niederösterreich. "Puh", seufzt die SPÖ-Chefin auf dem Weg zum Auto. Sie hat heute über hundert Bürgern die Hand geschüttelt, dutzende Gespräche geführt. "Man lässt viel Energie im Wahlkampf", sagt sie. "Man bekommt auch viel zurück", fügt sie nach einer Pause hinzu, die etwas zu lange dauert. "Immer soll man authentisch sein. Was auch immer das eigentlich genau bedeutet."

Joy Pamela Rendi-Wagner auf der Suche nach Bürgern, denen sie die SPÖ schmackhaft machen kann.
Foto: Alexander Danner

Es gibt solche und solche Termine in einem Wahlkampf – organisierte SPÖ-Veranstaltungen und jene wie das Erdäpfelfest Stockerau, wo Rendi-Wagner nicht von jedem erkannt wird, ihr niemand grundlos applaudiert, wo Wahlkampf tatsächlich eine Kampfzone ist. Rendi-Wagner isst Kartoffelpuffer, trinkt ein kleines Bier, mischt sich unters Volk. Hier hilft das alles wenig. "Sie ist eh sympathisch, aber meins ist die SPÖ nicht", sagt eine Passantin nach einer kurzen Unterhaltung mit der roten Spitzenkandidatin. In Stockerau, da entspricht das Leben den Umfragedaten.

  • T minus 14 – 15. September 2019, ORF-Zentrum Küniglberg:

Je näher der Wahltag rückt, desto mehr verselbstständigen sich die Genossen wieder. SPÖ-Sozialsprecher und Gewerkschafter Josef – genannt "Beppo" – Muchitsch erklärt live bei "Im Zentrum", es gebe eine rote Koalitionsbedingung: die Neuverhandlung des türkis-blauen Zwölfsundentages. Rendi-Wagner erfährt davon aus dem Fernsehen.

Davor fällt Tirols SPÖ-Chef Georg Dornauer aus der Rolle: Türkis-Rot sei seine Wunschkoalition. Auch diese Ansage wurde nicht abgesprochen. In der ÖVP unter Kurz sind solche Alleingänge undenkbar, Rendi-Wagner bringen sie in Erklärungsnot. Und den roten Strategieplan ins Wanken.

Rendi-Wagner mit dem Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer und Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil.
Foto: APA/EXPA/JOHANN GRODER

Einer, der sonst auch für seine Querschüsse bekannt ist, hält sich in diesem Wahlkampf allerdings überraschend zurück: Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil. Kurz vor der Wahl wird bekannt, dass er sich erneut einer Kehlkopfoperation unterziehen muss.

  • T minus 3 – 26. September 2019, letzte Elefantenrunde, ORF:

Spätwahlkampf. Es ist ihr 19. TV-Auftritt in den vergangenen drei Wochen. Rendi-Wagner hat inzwischen ein Ritual entwickelt: Wenn es sich irgendwie ausgeht, tut sie davor für zwei Stunden schlicht und ergreifend: gar nichts. "Das ist der größte Luxus momentan", sagt sie und atmet tief ein. "Zeit für mich selbst haben. Vielleicht sogar eine halbe Stunde Power-Nap."

Die inhaltliche Vorbereitung findet davor in der Löwelstraße statt – zweiter Stock, ihr Büro. Viele Politiker spielen TV-Duelle und Fernsehkonfrontationen mit ihren Mitarbeitern durch, die für sie die Gegner mimen. Rendi-Wagner tut das nicht. Sie sitzt mit ihren engsten Beratern – Thomas Drozda, Wahlkampfmanager Christian Deutsch, Kommunikationschef Stefan Hirsch – an ihrem Besprechungstisch und diskutiert Angriffslinien, Verteidigungsstrategien, gute Argumente.

Zigfach trafen die Spitzenkandidaten in diesem Wahlkampf im Fernsehen aufeinander. Hier: FPÖ-Chef Norbert Hofer, ÖVP-Obmann Sebastian Kurz und Rendi-Wagner.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

Am Donnerstag vor der Wahl treffen die Spitzenkandidaten ein letztes Mal aufeinander. Überraschend ist dabei nichts mehr. Rendi-Wagner hat schon alles gehört, sie kennt die Pointen, die Anekdoten, die Schwächen der Konkurrenz. Ihr eigenes Manko: Spontanität, sobald ein Gespräch vom Protokoll abweicht. Ob sie jemals etwas Verrücktes getan habe, fragt Moderator Armin Wolf. Eigentlich eine aufgelegte Möglichkeit, sich als sympathisch zu präsentieren. Ein Elfer, den sie nicht verwandelt. "Nein, noch nie, ähm, ich bin ein Mensch, der Risiken genau abschätzt." Neben dieser Frau will man bei einer Prüfung sitzen, aber nicht mit ihr auf ein Bier gehen.

Ob sie mit Sebastian Kurz zusammenfinden könnte? Wahrscheinlich schon. Rendi-Wagner selbst sagt gerne, sie sei pragmatisch in solchen Fragen. Im unerwartet harten Wahlkampffinale haben die beiden zwar nicht mehr viel füreinander übrig, doch nach der Wahl sieht immer alles ganz anders aus.

In der SPÖ gibt es mit der Gewerkschaft außerdem eine mächtige Fraktion, die nur darauf wartet, endlich das Sozialministerium zurückzuerobern. Und auch wenn viele in der Sozialdemokratie Kurz verachten – von Regierungsämtern geht ein Reiz aus, der selbst standfeste rote Ideologen schwach werden lässt.

Ja, natürlich: Die Grünen stehen Rendi-Wagner näher. Doch auf eine Mitte-links-Mehrheit nach der Wahl hofft nicht einmal jene Frau, die bis heute an ihre baldige Kanzlerschaft glaubt.

  • T minus 0 – 29. September 2019, Tag der Nationalratswahl:

Rendi-Wagner möchte noch in Ruhe mit ihrer Familie frühstücken. Dann beginnt für sie der Tag, der über ihr Schicksal entscheiden wird. Sollte die SPÖ unter 22 Prozent fallen, werden schon bald erste Sozialdemokraten ihre Ablöse fordern. Es gibt zwar keinen logischen Nachfolger, dafür gleich mehrere Männer in der Partei, die davon überzeugt sind, die Sozialdemokratie besser anführen zu können, als Rendi-Wagner es tut.

Rendi-Wagner beim Interview in ihrem Büro in den Parlamentscontainern am Heldenplatz.
Foto: Matthias Cremer

Im Wahlkampf haben die Genossen zumeist Geschlossenheit demonstriert. Sollte das Ergebnis nicht passen, ist damit spätestens am 30. September Schluss. Es ist eine innenpolitische Binsenweisheit, dass der Grad der Abneigung entlang der Achse Freund-Feind-Parteifreund stetig zunimmt. Zumindest in schlechten Zeiten.

Rendi-Wagner wollte sich auf Analysen über den Wahltag hinweg nie einlassen. Sie konzentriere sich auf dieses eine Ziel, antwortet sie auf derlei Fragen. Nur ein einziges Mal deutete sie in einem Gespräch mit dem STANDARD eine Reflexion über ihren persönlichen Stichtag hinaus an. "Ich würde niemals mit der FPÖ koalieren. Mit mir wird es das nach der Wahl auf keinen Fall geben", sagte sie damals. Die Betonung lag auf dem "Ich". (Katharina Mittelstaedt, 27.9.2019)