Josef Ptáček im Garten des Palais Lobkowitz (September 2019).

Foto: Gerald Schubert

Die Beete sind proper arrangiert, der Rasen strahlt im sattesten Grün, menschenleere Kieswege glänzen in der Sonne. Im Garten des Palais Lobkowitz, Sitz der deutschen Botschaft in Prag, steht der Fotograf Josef Ptáček und kramt aus seinem Gedächtnis ganz andere Bilder hervor: "Hier war alles voller Decken, voller Betten, voller Zelte." Langsam dreht er sich um die eigene Achse. "Vor allem aber waren hier überall Menschen. Tausende von Menschen."

Unter den Arm hat Ptáček seine alte Nikon geklemmt. Mit ihr hat er vor genau 30 Jahren die Flüchtlinge aus der damaligen DDR fotografiert, die über die Prager Botschaft der Bundesrepublik in den Westen fliehen wollten. "Zuerst bin ich zwei oder drei Tage draußen auf der Straße herumgeschlichen", erzählt der 73-Jährige. Genau dort, wo viele ihre Wartburgs und Trabis abgestellt hatten, bevor sie über den Zaun auf das Botschaftsgelände kletterten.

Die Schlüssel ließen manche einfach stecken. Gemeinsam mit ihren DDR-Autos wollten sie ihre ganze DDR-Vergangenheit hier zurücklassen. Sie waren in die Hauptstadt der kommunistischen Tschechoslowakei gekommen, um in der Botschaft der Bundesrepublik westdeutschen Boden zu betreten – und um danach, hoffentlich, irgendwie ein neues Leben im Westen zu beginnen.

Ein Job für den Kiebitz

Auch Josef Ptáček hat es schließlich – als einziger tschechischer Fotograf – in die Botschaft geschafft. Und zwar durch den Haupteingang. Man brauchte jemanden, der bei der Evidenz der Flüchtlinge hilft und Passfotos macht. Sehr viele Passfotos. Und so bat man Ptáček, den Kiebitz mit der Kamera, spontan herein.

Die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland wurde 1989 zum Nadelöhr für tausende DDR-Bürger auf dem Weg in den Westen.
Foto: Josef Ptáček

"Hier im Garten habe ich zwei Pflöcke in den Boden geschlagen und ein Leintuch aufgespannt", erinnert er sich. "Das war mein Atelier." Davor stellten sich die Flüchtlinge – der damalige Botschafter Hermann Huber nannte sie Gäste – in langen Schlangen an. Mit "deutscher Disziplin", wie Ptáček zu wissen glaubt.

In der Nacht entwickelt er die Fotos dann, mehr als 3500 sind es innerhalb von drei oder vier Tagen. In den wenigen Atempausen streift er über das Botschaftsgelände und macht die Bilder, die ihn wirklich interessieren. Bilder, von denen einige um die Welt gehen sollten. "Wichtig war, dass mir die Menschen vertrauten, mich nicht für einen DDR-Spion hielten", so Ptáček. "Ich konnte kaum Deutsch, die Flüchtlinge konnten meist kein Englisch. Aber immer, bevor ich ein Foto gemacht habe, habe ich zumindest in ihren Blicken nach Zustimmung gesucht."

"Ruhig und rücksichtsvoll"

Bis heute schwärmt Ptáček von der Gelassenheit in der Botschaft, die mittlerweile völlig überfüllt war. Auf den Gängen und Treppen, in der Einfahrt oder unter freiem Himmel: Überall warteten Flüchtlinge auf ein Leben in Freiheit. Lange Schlangen bildeten sich nicht nur vor Ptáčeks improvisiertem Fotostudio, sondern auch vor den wenigen Toiletten. Irgendwie musste der Müll entsorgt werden, es gab Kranke, die meisten besaßen nur das, was sie bei ihrer Flucht am Leib getragen hatten. Langsam ging der September zu Ende, es drohte der Beginn eines kalten Herbstes.

Josef Ptáček zeigt seine Fotos von damals.
Foto: Gerald Schubert

"Trotz allem: Ich habe bei den Menschen keinerlei Nervosität verspürt", erinnert sich Ptáček. "Sie mögen unsicher gewesen sein, aber sie blieben ruhig und rücksichtsvoll. Nie habe ich gesehen, dass Schwächere abgedrängt oder übervorteilt worden wären."

Jens Hase kann das bestätigen. Er hatte noch einen Schlafplatz im Treppenhaus ergattert. Als immer mehr Flüchtlinge nachkamen und Menschen im Freien campieren mussten, hätten er und die anderen sofort ihre Decken hergegeben. "Da hat niemand gemurrt", erzählt Hase. Der damals 19-Jährige war nach Prag gekommen im verzweifelten Versuch, seinen Eltern in den Westen zu folgen. Die Regimekritiker waren kurz zuvor ausgebürgert worden, Jens blieb alleine in der DDR zurück: "Man hat mir ein besseres Leben versprochen, wenn ich für die Staatssicherheit als Spitzel arbeite. Aber sie haben schlecht über meine Eltern geredet, das ging gar nicht."

"Gibt es etwas Neues?"

Als am 30. September Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in der Botschaft auftaucht, schreckt Jens Hase auf seiner Treppenstufe aus dem Tiefschlaf hoch. Plötzlich ist da das Gesicht, das er nur aus dem Westfernsehen kennt. Sein spontanes Vorpreschen scheint Hase heute fast ein wenig peinlich zu sein: "Herr Genscher! Gibt es etwas Neues?" Die Antwort klang vielversprechend: "Versammeln Sie sich bitte alle im Garten, ich habe eine Nachricht für Sie."

Im Dunkel des Abends, oben auf dem Balkon des Palais Lobkowitz, sprach Genscher dann den berühmtesten Halbsatz der Geschichte: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Der Rest ging im Jubel unter. "... möglich geworden ist", hat Genscher gesagt, wie eine Gedenktafel auf dem Balkon heute verrät.

Eine Trabi-Skulptur des tschechischen Künstlers David Černý erinnert im Garten der Botschaft an die Flüchtlinge des Jahres 1989.
Foto: Gerald Schubert

Vorangegangen waren zähe Verhandlungen mit Vertretern der DDR, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Man ließe die Menschen aus "humanitären Gründen" ziehen, hieß es schließlich in Ostberlin. Das DDR-Fernsehen erklärte, es sei um die kriminellen Republikflüchtlinge nicht schade. Doch noch lauerte eine letzte Schikane: Die bereitgestellten Sonderzüge durften nicht direkt nach Bayern fahren, die Flüchtlinge mussten noch einmal durch ostdeutsches Gebiet – ein letzter Versuch der Machthaber, das Gesicht zu wahren.

Kleiner Beitrag zur Wende

Manuela Beckmann war damals erst 18. Anders als bei Jens Hase waren es in ihrem Fall die Eltern, die in der DDR zurückgeblieben waren. Als der nächtliche Zug aus Prag in die Freiheit an ihrem Heimatdorf vorbeifuhr, sah Manuela ihren Vater. Er stand einfach neben dem Gleis und winkte, ohne zu wissen, ob seine Tochter überhaupt im Zug war. Und sie selbst wusste nicht, ob sie ihren Vater jemals wiedersehen würde.

Wenige Wochen später fiel die Berliner Mauer. Manuela blieb im Westen, ihre Eltern konnte sie nun treffen, sooft sie wollte. Bereut sie die Strapazen der Flucht, die bald gar nicht mehr nötig gewesen wäre? "Keinesfalls", sagt sie. Es müsse eben Leute geben, die den ersten Schritt tun. "Und im Nachhinein bin ich schon stolz, dass ich so meinen klitzekleinen Teil zur Wende beigetragen habe." (Gerald Schubert aus Prag, 27.9.2019)