Dieser Hamlet bleib stets überraschend.

Foto: Alexi Pelekanos

Shakespeare geht immer. Der Autor ist jedem ein Begriff, die Stücke sind klug und trotzdem unterhaltsam, zudem ohne lästige Postdramatik und mit klassischem Aufbau, sodass man ihnen leicht folgen kann. Zur Allgemeinbildung gehört er, Schulklassen können auch hin. Kurz, man kennt ihn und weiß als Gast, was man kriegt. Da kann es nun eventuell etwas öde werden: schon wieder Shakespeare. Iwo. So sehr hat der aus London stammende Rikki Henry den Hamlet seit der Schule inhaliert, dass er dem niederösterreichischen Landestheater nun spaßeshalber eine ziemlich freshe Fassung beschert hat. Wenn er nicht darf, wer dann?

Sein oder nicht sein? Anders sein!

Eine Neudeutung aus dem britischen Schoß: Henry stellt dem Stoff vor allem jene Frage, wie man ihn flott abschnurren lassen kann. Sein oder nicht sein? Anders sein! Die Handlung ist zwar dieselbe: Hamlets Onkel hat seinen Vater, den König, mit Gift getötet und dessen Platz eingenommen. Eigentlich will Hamlet den Onkel dessen nur überführen, letztlich richtet er ein Blutbad an.

Bis zu Heiner Müllers BLABLA geht Henry nicht, aber unterwegs einen kleinen Umweg: "Und so bin ich gerächt?", fragt Hamlet (Tim Breyvogel) sich nach eineinhalb Stunden vor der Pause. Er hat gerade mit zwei lauten Knacksern und viel rotem Blitzlicht dem König Claudius (Michael Scherff) und der eigenen Mutter (Marthe Lola Deutschmann) den Hals umgedreht. Er dachte, es würde ihm besser gehen. Aber die Rache schmeckt schal.

Stilistisch ist das Theater mit 3D-Brille und Popcorn. Genau so sitzt die Königsfamilie denn auch vor dem Schauspiel (Bettina Kerl) versammelt, mit dem Hamlet den Onkelkönig des Mordes zu überführen hofft. Hierzu rollt Henry wieder einmal einen dicken Soundteppich aus. Die beatlastige Untermalung könnte er aus Südlondon mitgebracht haben, sie kommt aber von Nils Strunk aus München. Henry und er kennen einander von Arbeiten am Residenztheater unter Martin Kušej. Der kennt auch ihre Namen.

Auf goldenen Stelzen

Zu Recht. Schon gleich an den Anfang hat Strunk zu einer verfremdeten Musikspur eine Collage aus Satzfetzen des folgenden Stücks hingeklotzt. Dazu prunkt über der Bühne aufgebockt auf goldenen Stelzen eine goldene Krone. Auch die Bildsprache kleckert nicht; die Krone markiert den Umfang der Drehbühne. Die ist in St. Pölten nicht allzu groß, Bühnenbildner Max Lindner hat sie dennoch in golden, rot und blau gefärbte Sektoren eingeteilt: zwei große, die als Schauplätze wie Theater, Festsaal und Landschaft herhalten, und zwei kleinere. Sie liegen Wand an Wand.

Das wirkt anfangs etwas beengt, mit Tür-auf-und-Tür-zu-Charakter schmilzt Henry die Szenen so aber flott ineinander. Nicht nur die Lebensweisheiten des Polonius (Tilman Rose) für Laertes (Philip Leonhard Kelz) werden auf wenige Verse gestrafft. Deshalb ist man auch in zwei Stunden Nettospielzeit durch. Und hatte trotzdem Zeit für einen ausgiebig inszenierten Fechtkampf: Es klirren die Luftschwerter, knacksend bricht eine Hand.

Lässiger Wahnsinn

Dieser Hamlet hat nichts von Weihe und Würde, sein Wahnsinn kommt einher mit Lässigkeit. Wenn der rote Samtvorhang an der Rampe öfters auf und zu geht, tut er das als keckes Zitat. Henry kennt das Spiel mit dem Handwerk, schließlich hat er bei Peter Brook gelernt. Es mangelt hier also keineswegs an Ernst oder Respekt. Als der Königsmörder und seine neue Frau die Thronrede proben, wummert hinter ihnen trotzdem schon die Party.

Als in Hamlets Erinnerung noch seine Mutter seinen Vater liebt, schmust sie hinter dem Prinzenrücken ungestüm und kichernd mit dem Onkel. Die Witwe trägt den weißen Schopf flott geschnitten zum tiefen Dekolleté. Ophelia (Laura Laufenberg) spielt am Handy, wenn sie auf den Prinzen wartet, der ihr verfallen ist.

Stets überraschend

An diesem Hamlet ist kein Körnchen Staub. Mit einer Fackel ist der Prinz dem Flüstern der väterlichen Geisterstimme in Finsternis und Kunstnebel ausgesetzt – auch das könnte bieder werden. Aber der Scheinwerfer strahlt von oben dramatisch auf die nächtliche Szene hinunter. Nebel, Schlaglicht und Dunkelheit verbinden sich wie im Thriller.

Zurück zur Handlung. Nach der Pause spult sie zurück: Hamlet hat dem Königspaar doch nicht das Genick gebrochen. Bildgewaltig geht es stattdessen noch eine halbe Stunde weiter. Sätze, die längst im allgemeinen Sprachgebrauch aufgegangen sind, purzeln aus den Figuren. Obwohl Henry kein Deutsch kann, hat das Ensemble einen klaren Sound. Breyvogel kann als Titelfigur "laut", "leise" und mit selbstgebastelter Papierkrone "im Wahn" genauso variieren, wie Strunk unerwartet Klaviermusik einspielt. Dieser Hamlet bleibt stets überraschend. (Michael Wurmitzer, 29.9.2019)