Nervös machen lässt sich Christoph Hofinger schon lange nicht mehr – nicht durch den Countdown, der am oberen Bildschirmrand durchläuft, nicht nur die dramatische Musik und auch nicht durch das bienenstockartige Gewusel im ORF-Studio. Nein, nicht bei seiner 64. Hochrechnung für den ORF. Jedes Blutkörperchen ist damit beschäftigt, Sauerstoff ins Gehirn zu transportieren, sagt der Wahlforscher, Energie für Nervenkitzel bleibt da keine.

Christoph Hofinger, Günther Ogris und deren Team von Sora sorgen am Wahlsonntag dafür, dass wir möglichst früh die richtigen Grafiken sehen.
Foto: Jacqueline Godany

Hofinger, sein Partner Günther Ogris und weitere vier Mitarbeiter sorgen am Wahlsonntag dafür, dass wir bereits kurz nach 17 Uhr eine Hochrechnung sehen, die sich vom Endergebnis nicht mehr wesentlich unterscheidet. Um weniger als 0,4 Prozentpunkte wichen die ersten Hochrechnungen von Sora in den vergangenen Jahren durchschnittlich vom Endergebnis ab, so genau waren keine anderen. Aber wie können Hofinger und sein Team so genaue Zahlen liefern, wenn die letzten Wahllokale erst um 17 Uhr schließen?

"Na, wie ist denn das etwa in Tirol?", sagt der gebürtige Innsbrucker. "Die Leute gehen in die Kirche, dann wählen. Und wenn der eine Kommunist, der nicht in die Kirche geht, dann auch wählen war, wird um zehn Uhr zugesperrt." Österreichweit ist in einem Viertel der Wahllokale schon vor zwölf Uhr Schluss, in Vorarlberg schließen alle Wahllokale um spätestens 13 Uhr – und liefern den Wahlforschern wertvolle Daten. Schließen im Osten Österreichs um 17 Uhr die letzten Wahllokale, sind rund 1.500 Gemeinden schon ausgezählt.

Hofingers Gemeindekisterln

Aus diesen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen, das ist die große Herausforderung – und die eigentliche Arbeit von Hofingers Team. Einfach eine Tiroler Gemeinde mit Wien-Neubau zu vergleichen wäre nämlich ein "Vergleich zwischen Äpfel und Birnen", wie Hofinger sagt. Er hat deshalb alle Gemeinden zunächst in Apfelkisteln (ländlich) und Birnenkisteln (urban) sortiert. Je nachdem, ob eine Partei in einer Gemeinde traditionell eher stark oder schwach ist, kommt sie in eine weitere von zwölf Kisten, zum Beispiel "urban, Grüne schwach" oder "ländlich, Neos stark". Verliert die FPÖ in den bereits ausgezählten Gemeinden aus der Kiste "ländlich, FPÖ stark" jeweils ein Viertel ihrer Stimmen an die ÖVP und Nichtwähler, dann ist das wahrscheinlich auch in den anderen, noch nicht ausgezählten Gemeinden aus dieser Kiste so. Die Ergebnisse der zwölf Prognosen werden dann gemittelt.

Christoph Hofinger macht bereits die 64. Hochrechnung für den ORF.
Jacqueline Godany

Fragezeichen Wahlkarten

Die Wahlkartenwähler – diesmal waren erst erstmals über eine Million – machen die Sache nur noch komplizierter. Basierend auf der letzten Nationalrats- und EU-Wahl hat Hofinger für jede Gemeinde und jede Partei ein Modell entwickelt, das Wahlkartenstimmen aus den Urnenstimmen vorhersagen sollen. In Wien-Neubau bekommen die Grünen für 100 im Wahllokal abgegebene Stimmen etwa noch 43 Wahlkartenstimmen dazu, die FPÖ in Leibnitz pro 100 Urnenstimmen nur 13. Das ist natürlich stark vereinfacht dargestellt.

Als der Verfassungsgerichtshof 2016 die Bundespräsidentenwahl aufgehoben hat, entschied er auch, dass die Wahlbehörden vor 17 Uhr keine Ergebnisse weitergeben dürfen. Die Arbeit für die Sora-Hochrechner ist seitdem schwieriger geworden. Dazu kommt die Konkurrenz von den Privatsendern. Über die ist Hofinger aber ganz froh (sagt er zumindest). Jeder wolle die schnellste und beste Hochrechnung haben – das mache die Prognosen allgemein besser.

Nerds am Rechner

Es sieht fast klischeehaft aus, wenn Hofinger das statistische Programm (das Herz von Sora) hochfährt und auf dem Bildschirm bunte Zahlen und Buchstaben auf schwarzem Hintergrund herumhüpfen – ein wenig, wie in Filmen Hacker dargestellt werden. Das Programm schrieb er in den 90er-Jahren selbst, es läuft nur auf MS-DOS, einem veralteten Betriebssystem aus dem vorigen Jahrtausend. Bis vor wenigen Jahren mussten die Wahlforscher deshalb noch ausgemusterte Computer, die das Programm unterstützen, aus dem ORF-Keller ins ZiB-Studio schleppen. Später behalf sich Hofinger mit einem Hack aus der Retro-Gaming-Szene, mittlerweile arbeitet das Team mit Excel. Die bunten Zahlen erscheinen jetzt auf weißem Hintergrund, was ein bisschen weniger nerdig aussieht. Das Modell im Hintergrund ist gleich geblieben.

Die Arbeit der Hochrechner ist die Grundlage der Grafiken, welche die Moderatoren präsentieren.
Jacqueline Godany

Anleihen von der Wetterprognose

Auf dem Weg in die Maske trifft Österreichs prominentester Wahlforscher auf ORF-Wetterchef Marcus Wadsak, sie scherzen über Wetter- und Wahlprognosen. In seinem geplanten Buch, sagt Hofinger, lobt er das ganze erste Kapitel hindurch die Meteorologie. "Aber wenn dauernd gewählt wird, komme ich nie zum Schreiben." Die Ensemblemethode, so der Fachbegriff für Hofingers Modell mit den Apfel- und Birnenkisten, haben sich Wahlforscher von den Meteorologen abgeschaut.

Die erste Hochrechnung um 17.09 Uhr löst in den Parteizentralen starke Emotionen aus, Hofinger bleibt ruhig. Er lässt sich durch den Jubel bei den Türkisen, die betretene Stimmung bei der SPÖ und die langen Gesichter bei der FPÖ nicht ablenken. Sein Blick bleibt auf den Bildschirm gerichtet, selbst wenn eine Technikerin sein Mikro richtet. Hofinger und seine Kollegin Corinna Mayerl arbeiten bereits an der nächsten Hochrechnung. Und an der übernächsten. – So lange, bis das vorläufige Endergebnis um 21.00 Uhr feststeht, das dann eigentlich gar nicht mehr so wichtig ist. (Philip Pramer, 29.9.2019)