Seit "Casino" (1995) hat Robert De Niro keinen Langfilm mehr mit Martin Scorsese gedreht – in "The Irishman" spielt er mit Weggefährten wie Joe Pesci, Harvey Keitel und Al Pacino.

Foto: Netflix

Zwölf Jahre! Als Hauptdarsteller und Koproduzent Robert De Niro nach Regisseur Martin Scorsese anlässlich der Weltpremiere von "The Irishman" ans Mikrofon tritt, erinnert er an die Zeit, die es gedauert hat, um das gemeinsame Herzensprojekt zu realisieren. Er deutet dabei auf das neben ihm aufgereihte Dutzend in der New Yorker Alice Tully Hall. Inmitten jüngerer Schauspielkollegen finden sich die Wegbegleiter Al Pacino, Harvey Keitel und Joe Pesci, allesamt zwischen 76 und 80 Jahre alt. Es soll das Argument der fliehenden Zeit gewesen sein, mit dem De Niro seinen Freund Pesci doch noch dazu bewegen konnte, den Ruhestand als Schauspieler zu unterbrechen. Das Resultat auf und vor der Leinwand ist eine mit Kinomythen geradezu überfrachtete Darstellerkonstellation.

Dem Filmkritiker und Filmemacher Kent Jones ist in seinem letzten Jahr als Kurator des New York Film Festival mit der Premiere von "The Irishman" zweifellos ein Coup gelungen, der auch die Produktionsfirma Netflix freuen dürfte. Scorseses mit kolportierten 150 Millionen Dollar bisher teuerster Film soll nach einem Kinoeinsatz (ab 14. November auch in Österreich) ab 27. November auf der Streamingplattform abrufbar sein. Bereits jetzt wird der Film als neuer Oscar-Favorit gehandelt.

Trailer zu "The Irishman".
Netflix

In seiner Eröffnungsrede erinnerte Festivalkurator Jones daran, dass er im gleichen Kinosaal 1973 die ungleich weniger beachtete Premiere von Scorseses Durchbruchsfilm "Mean Streets" gesehen hatte. Damals waren es De Niro und Keitel, denen eine agile Kamera bei ihren Auftritten folgte, durchpulst von der Musik der Rolling Stones.

Auch am Beginn von "The Irishman" gibt es einen jener von Musik durchwirkten Tracking Shots, die zu den Markenzeichen Scorseses gehören. Zu "In the Still of the Night" von The Five Satins gleitet die Kamera durch Räume und Korridore. Anders als in "Mean Streets" oder "Goodfellas", Scorseses früheren im italo-amerikanischen Mobstermilieu angesiedelten Filmen, befinden wir uns aber nicht etwa in einem Nachtclub, sondern in einem Altersheim. Dort sitzt der von De Niro verkörperte Frank "The Irishman" Sheeran in einem Rollstuhl und erzählt seine Lebensgeschichte.

Geschichte der Gewalt

In fast dreieinhalb Stunden entfaltet sich in Rückblenden ein Panorama aus Gewalt, Loyalität, Verrat und Vergessen: Mordgeschichten, in denen sich die Geschichte der USA widerspiegelt. Sheeran, ein Weltkriegsveteran irischer Abstammung, verdingt sich als Auftragskiller im Dienste des Gangsters Bufalino (Joe Pesci).

Als Mann fürs Grobe gewinnt er schließlich das Vertrauen eines Mannes, der, wie es im Film heißt, "in den 50ern wie Elvis war, in den 60ern größer als die Beatles", um ihn schließlich zu töten: Es handelt sich um Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino).

Al Pacino, Martin Scorsese, Robert De Niro und Co in der New Yorker Alice Tully Hall bei der Premiere von "The Irishman".
Foto: Karl Gedlicka

"The Irishman" knüpft an Charles Brandts 2004 erschienenes Sachbuch "I Heard You Paint Houses" und den plausiblen, aber umstrittenen Geständnissen Sheerans an. Für Scorsese liefern sie den Stoff für einen filmischen Durchlauferhitzer: Unter dem Vorzeichen schwindender Zeit wird ein raffiniert inszeniertes Best-of in Sachen Mafiafilm mit viel schwarzem Humor serviert. Unterstützung kommt an allen Fronten von bewährten Weggefährten: Cutterin Thelma Schoonmaker und die Musikauswahl von Robbie Robertson (The Band) sorgen für einen unablässigen Flow, die Bilder von Rodrigo Prieto ziehen uns in eine vergangene Welt hinein.

Um die über mehrere Jahrzehnte gespannte Handlung mit seinem in die Jahre gekommenen Idealensemble drehen zu können, bediente sich Scorsese eines sündteuren digitalen "De-aging"-Prozesses. Das Ergebnis erscheint letztlich nicht besser oder störender als dick aufgetragenes Make-up. Überstrahlt wird es in jedem Fall vom selbstironisch-lässigen Schauspiel der Hauptdarsteller.

So lässt Pesci bei seiner Zugabe als Schauspieler mit viel Gewinn all seine Manierismen zurück. De Niro und Pacino bringen uns Menschen mit Blut an den Händen näher, ohne sie vordergründig sympathisch zu machen. Überlebensgroße Figuren werden zu alltäglichen. Zwar kennen die Mafiosi in "The Irishman" kaum Reue beim Töten, sehr wohl aber Furcht vor dem eigenen Tod. Scorsese bezieht daraus einige seiner besten Witze und bestätigt sich damit nicht nur als zu Recht gerühmter Stilist, sondern auch als unterschätzter Komödienregisseur. Wie Sergio Leones ebenfalls mit De Niro und Pesci gedrehtes Opus magnum "Es war einmal in Amerika" ist auch "The Irishman" letztlich ein Film über die Suche nach der verlorenen Zeit. Das Lachen klingt dementsprechend bitter. (Karl Gedlicka, 30.9.2019)