"Dranbleiben!" Jürgen brüllte. So laut, dass ich ihn 100 oder 200 Meter weiter vorne auch noch hören konnte. "Nur noch fünf Kilometer." Ich sah auf meine Garmin: Stimmt. 16 k und ein bisserl was standen am Tacho. Ein Schnitt von knapp 4'57".

Den aktuellen Kilometer, sagte die Uhr, würde ich ein paar Sekunden schneller laufen. Ich grinste: Passt. "Durchbeißen!", kam von hinten. Jürgen machte einen perfekten Job. Nur weil ich konstant ein paar Meter vor ihm und seiner Gruppe die Donau entlang lief und nicht auf Anschlag unterwegs war, brauchte ich mir nicht einzubilden, dass ich von seiner Arbeit nicht auch profitierte.

Foto: thomas rottenberg

Jürgen, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, dass er Jürgen heißt, war Pacemaker. Pacemaker beim Wachau-Marathon. Der fand am Wahlsonntag statt – und war nicht nur wegen des Vorzeige-Schrittmachers ein Traumlauf.

Und wenn ich in die Gesichter rund um mich sah, nicht nur für mich: das Wetter, die Strecke, die Stimmung, das Drumherum, die Leute – schöner geht nicht. Echt nicht. Nicht nur vom Anfang bis zum Ende, sondern auch davor und danach. Aber bleiben wir noch kurz bei Jürgen.

Foto: thomas rottenberg

Oder kommen wir vielleicht doch erst ein bisserl später wieder zu ihm. Jürgen tauchte am Sonntag nämlich erst zehn Minuten nach zehn auf. Etwas mehr als einen Kilometer donauabwärts von Spitz traf ich ihn.

Ich hatte mich – so wie immer – in einen Startblock weiter hinten gestellt, als es mir meine innere Stimme für diesen Tag gesagt hätte: Irgendwas um die zwei Stunden würde es wohl werden. Keine persönliche Bestzeit, sondern einfach ein ruhiger, vielleicht doch zügiger Lauf: Ich bin müde.

Vom Training und Bewerben und ein paar anderen Ereignissen dieses Jahres ausgelaugt. Am Dienstag vorige Woche – beim Vienna Night Run am Ring – habe ich mich "abgeschossen". Seither schleppe ich einen lästigen Husten mit. Belastungsasthma sei das, sagte man mir. Ein neues Wehwehchen auf der Älterwerden-ist-mühsam-Liste. Das wird man eh wieder los – außer man setzt noch was drauf. Muss ja nicht sein: Die Wachau gilt nicht ohne Grund als Genussregion.

Foto: thomas rottenberg

4.100 Starterinnen und Starter wollten das heuer beim 22. Durchgang des Traditionsrennens auf der Halbmarathonstrecke tun: genießen. Oder doch mehr? Es herrschte Traumwetter, das eventuell sogar eine Spur zu warm werden würde. 25 Grad waren angesagt. Noch ein Grund mehr, es "pomaly" anzugehen.

Ich reihte mich also bei jenen ein, die sich in den Startblock für eine Zwei-Stunden-15-Zielzeit gestellt hatten, und trabte ein lockeres Anfangstempo. Irgendwas zwischen 5'30" und 5'45": Einlaufen, sagt die Trainingslehre, sollte man sich zwar vorher, aber wenn man nix Besonderes vorhat, kann man das bei längeren Läufen auch am Anfang machen.

Da stockt es eh oft genug. Also arbeitete ich mich gemütlich durch einen dichten Pulk von fröhlichen Menschen: Ich war niemandem im Weg – und die Gefahr, overzupacen, bestand auch nicht.

Foto: thomas rottenberg

"Vorsicht!" Das kam von vorne. "Platz machen!" Ich hob den Blick: Vorne wackelte eine Beachflag. Ach, deshalb war der Block, in dem ich gerade steckte, dichter! Das da vorne war ein Pacer. Ein Schrittmacher. Ein Läufer also, der schnell und routiniert genug ist, eine Gruppe mit jenem konstanten Tempo ins Ziel zu führen, das auf seiner Fahne steht. 1:45 war das in dem Fall.

Ich sah auf meine Uhr: Obwohl ich von hinten kam, lag mein Schnitt knapp über 5 Minuten pro Kilometer. Für 1:45 wäre das einen Tick zu langsam. Der Mann mit der Flagge wusste das natürlich auch – aber wie bei jedem Lauf waren da hunderte Selbstüberschätzer vor ihm auf der Strecke: Leute, die viel zu weit vorne gestartet waren – und allen, die zügiger unterwegs waren, im Weg standen.

Foto: thomas rottenberg

Wofür die Puste dann aber und gerade bei solchen Leuten immer reicht, ist dem Rüffel der Überholer zu kontern: "Wenn du überholen willst, weich gefälligst aus!" Grundsätzlich ist das absolut richtig: Wer überholt wird, sollte – schon aus Sicherheitsgründen – tunlichst geradeaus laufen.

Aber wenn man nach drei Kilometern auf eine Sechsdreißigerpace runterschaltet und dann von jenen überrollt wird, die im richtigen Block gestartet sind und mit der dafür korrekten Pace (also in dem Fall rund fünf Minuten pro Kilometer) unterwegs sind, relativiert sich das: Vom Gas gehen müssen kann auch guten Läuferinnen und Läufern passieren. Eben wenn was schiefgeht. Aber die zwicken sich dann an den Streckenrand. Selbstüberschätzer tun das nicht. Nie.

Foto: thomas rottenberg

Gerade am Anfang eines Laufes kommt ein Schrittmacherpulk wie eine Lawine daher. Die Leute rund um den Pacer verlassen sich blind auf ihren Fahnenträger: Dranpicken, abschalten, dranbleiben. Der Pacer sorgt für Rhythmus und Gleichmäßigkeit.

Genau das ist der Trick: Kontinuität. Der Flow. Der Pacer ist die Lok – und weiß das auch. Den Weg freizumachen ist Teil seines Jobs. Höflich, aber doch. "Ihr habt da vorne eigentlich nix zu suchen!", antwortete Jürgen einem Schleicher, der laut motzte. Vollkommen zu Recht. Der Schleicher sah das anders und kündigte an, sich beim Veranstalter zu beschweren. Soll er: Irgendwer beschwert sich immer – egal was man tut.

Foto: thomas rottenberg

Der Wachau-Marathon ist da keine Ausnahme. Dabei machen die Veranstalter hier ziemlich viel ziemlich super. Allein der Stunt, 7.000 Menschen an einem Sonntagmorgen rechtzeitig an drei Startorte (für den Viertel-, den Halbmarathon und den Marathon) entlang der Straße, die man dann zurück nach Krems rennt, zu bringen, ist nicht einfach. Schließlich muss das Gepäck ja vor den Läuferinnen und Läufern wieder im Ziel sein.

Am Bahnhofsplatz von Krems geht es deshalb Sonntagfrüh rund: Eine Busflotte bringt die schon jetzt oft nervösen Athletinnen und Athleten an die Startorte.

Dass auf jeder Startnummer eine Busabfahrtszeit steht, ist nett – aber wurscht: Die einen wollen so früh, die anderen so spät wie möglich beim Start sein. Also drängelt jeder in den Bus, der gerade am Pier steht.

Foto: thomas rottenberg

Ich bin in der Wachau schon einige Male gelaufen. Und war da nicht anders. Auch weil wir alle immer noch oft gewohnt sind, bei "Anreise" auch "Auto" zu denken. Dass das längst falsch ist, tut der Denke keinen Abbruch.

Dass ich diesmal – wie auf meiner Startnummer sogar angegeben – den Zug nahm, hatte aber einen ganz banalen Grund: Die Kloschlangen im Zentrum von Krems waren – eh klar – endlos. Im Bus gibt es keine, im Zug dann aber doch WCs.

Dass der vorderste Waggon der Eisenbahn praktisch leer war (und das Klo daher sogar sauber), hätte ich aber nicht erwartet.

Foto: thomas rottenberg

Aber da war noch was: Aus dem knackevollen, fahrenden Bus kriegt man die Landschaft nicht wirklich mit. Ja eh: Dass es in der Wachau schön ist, sieht man schon. Aber die Bahnstrecke ist besser. Weit besser.

Da öffnen sich Hammerblicke aus der Panoramaebene – sowohl auf den Fluss als auch auf die Orte. Und grundlos ist die Wachau ja nun auch nicht Weltwasweißdennichwasalles-Erbe.

Foto: thomas rottenberg

Apropos Klos: Davon gibt es immer zu wenige. Egal wo und egal bei welchem Bewerb. Ilse Dippmann, der Veranstalterin des Frauenlaufes, wird der Satz zugeschrieben, dass auch 40.000 Dixieklos für einen 35.000 Starterinnen großen Event nicht ausreichen würden. Auch wenn nicht sicher ist, ob Dippmann das je gesagt hat, stimmt der Satz. Auch wenn sich Männer ein bisserl leichter tun.

Dass Letzteres für Anrainer oft eher unleiwand ist, ist unbestritten: Auch in Spitz flehte der Platzsprecher geradezu, nicht in die Landschaft zu pinkeln. Aber wenn 15 Minuten vor dem Start vor jedem Klo noch 40 Leute stehen, kommt irgendwann der Moment, in dem die Frauen in der Schlange die Männer vor ihnen fast anbetteln, doch bitte … und so weiter.

Foto: thomas rottenberg

All das ist aber vergessen, sobald man rennt. In der Wachau erst recht. Ganz besonders, wenn – ich weiß, ich wiederhole mich – die Bedingungen so sind wie an diesem Sonntag: Das Wetter war mehr als ideal.

Manchen Läufern schon beinahe zu sommerlich. Der Wind war kaum zu spüren – kam aber von hinten. Und die Stimmung passte: Da waren nur fröhliche Gesichter. So muss Laufen!

Foto: thomas rottenberg

Ich widerrufe hiermit auch mein Motschgern von früheren Wachau-Läufen: dass man spätestens nach zehn oder zwölf Kilometern weiß, dass links die Weinberge sind, in der Mitte die Straße und rechts die Donau ist, stimmt zwar – aber wenn es so locker dahingeht wie dieses Mal, ist das eben doch nicht langweilig.

Ganz im Gegenteil. Man rennt, schwitzt, lacht und plaudert – und auch wenn man natürlich ein bisserl flucht, weiß jeder, dass das nicht wirklich ernst gemeint ist.

Foto: thomas rottenberg

Ich hatte weder einen Plan noch ein Konzept für diesen Lauf gehabt, sondern war einfach losgerannt. "Zügig, aber nie auf Anschlag" hatte die Vorgabe gelautet. Ein Genusslauf also. Dass es so fein laufen würde, wie es dann lief, hätte ich nicht erwartet: Solche Läufe, solche Tage sind Geschenke, die man dankbar annehmen können muss.

Der Husten war nach dem Einlaufen wie weggeblasen. Irgendwann – zwischen Kilometer zehn und 14 – zwickte mein rechtes Knie kurz leicht. Eine Zehe scheuerte ein bisserl im Socken – ich hätte die Nägel wohl doch am Abend zuvor schneiden sollen. Bei Kilometer 15 fragte ich mich kurz, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, mein Gel bei k 12 einer Bekannten zuzuschupfen, die gerade in ein Energieloch stolperte.

Aber: Na und? Wenn das meine Probleme und Sorgen sind, kann ich nur sagen: Bitte mehr davon!

Foto: thomas rottenberg

Dass es ein Privileg ist, so zu laufen und so zu leben, ist nicht nur mir bewusst. Auch die Veranstalter des Wachau-Marathons wissen das sehr gut. Darum gibt es beim Wachau-Marathon seit einigen Jahren diverse Charity- und Wir-geben-etwas-zurück-Initiativen.

Etwa durch die Charity-Matte zugunsten der Caritas, die etwa bei Kilometer 17 auf der Straße lag: Für jeden (freiwilligen) Schritt auf die Matte spendete ein Sponsor Geld – und damit man das auch mitbekam, war die Matte mit einer kleinen Soundinstallation (Jubel!) verknüpft.

Außerdem wurden auch heuer wieder die zahllosen beim Start weggeworfenen Pullis und Shirts gesammelt und gewaschen, um von der Caritas dann verkauft zu werden.

Foto: thomas rottenberg

Auf der Marathonmesse gab es Medaillen-Boards und anderes Handwerkszeug aus integrativen Betrieben (und grandiose Marmeladepalatschinken). Dass die Trinkbecher an der Strecke aus Pappe und die Startersackerln aus Maisstärke waren, erwähne ich hier jetzt ebenso.

Dass sie ein bisserl eigen rochen, ist verkraftbar. Positiv zu erwähnen wäre auch der von den Veranstaltern vorab immer wieder kommunizierten Hinweis, doch bitte nicht aufs Wahlkartenbesorgen zu vergessen: Laufen sei zwar toll und wichtig, aber kein Grund, nicht zu wählen.

Kleinigkeiten – die aber insgesamt dann eben doch dafür sorgten, dass das Bild insgesamt stimmig war.

Foto: thomas rottenberg

Das mühsame am Wachau-Halbmarathon ist, dass man am Schluss am Ziel vorbeiläuft und dann doch noch eineinhalb oder zwei Kilometer durch Krems koffert. Das tut mitunter richtig weh – vor allem, wenn man am Anfang dieser Schleife denen entgegenläuft, die nur noch 200 Meter bis ins Ziel haben.

Freilich: Ob der Mann, der unmittelbar vor mir da im Gegenverkehrsbereich Spur und Richtung wechselte, nicht nur jemanden auf der anderen Straßenseite begrüßen wollte und sich dann wieder zurück auf die Stadtschleife begab, kann ich natürlich nicht beurteilen.

Aber es ist im Grunde auch egal. Der Einzige, den man beim Schummeln bescheißt, ist nämlich man selbst: Der Welt ist es vollkommen egal, ob man 781. oder 1247. wird.

Foto: thomas rottenberg

Rund 30 Meter vor dem Ziel nahm ich mir dann genau deshalb noch die Zeit, kurz Danke zu sagen. Oder so was Ähnliches: Da stand Wachau-Marathon-Macher Michael Buchleitner am Streckenrand und beobachtete zufrieden, wie mehr und mehr Läuferinnen und Läufer aufs Ziel zurannten – und auf den letzten Metern plötzlich Energiereserven hatten, an die sie selbst am allerwenigsten geglaubt hätten.

Buchleitner wirkte gelöst und fröhlich. Das ist immer ein gutes Zeichen: Wenn irgendwo an der Strecke etwas Gravierendes passiert wäre, hätten er und sein Team anderes zu tun, als uns "Hobetten" beim Ankommen zu applaudieren.

Foto: thomas rottenberg

Ankommen ist dann aber immer fein. Im Idealfall hat man dabei ein fettes Lächeln auf den Lippen. Oder glaubt das: Im Nachhinein war jeder Zieleinlauf strahlend-heroisch – und das ist gut so.

Es gibt aber auch die andere Version. Die besagt, dass jemand, der zwei Meter nach der Ziellinie noch aufrecht stehen oder gar jubeln kann, nicht alles gegeben hat.

Blöderweise bedeutet das aber, dass alle, die knapp dahinter ebenfalls mit letzter Kraft und Tunnelblick gerade noch über die Linie kommen, über einen drüberfliegen könnten: 98 Prozent zu geben reicht deshalb vollkommen aus.

Foto: thomas rottenberg

Oder aber noch ein bisserl weniger. Als Pacer etwa. Ein paar Sekunden nach mir kam Jürgen ins Ziel. Punktlandung. Sein anfangs so kompakter Block hatte sich allerdings ziemlich aufgelöst. Das ist normal. Aber ein oder zwei Handvoll derer, die ihn von Anfang an begleitet hatten, konnten das Tempo halten. Für die meisten war das eben die Jagd nach einer neuen PB, einer persönlichen Bestleistung. Da ist ein guter Pacer Gold wert: Jürgen hatte für sie einen perfekten Job hingelegt.

Ich hatte mich bemüht, der Gruppe möglichst wenig in die Quere zu kommen, war meistens knapp vor oder neben ihnen gelaufen – aber zu wissen, dass sie hinter mir waren, hatte mich wohl doch davon abgehalten, am Schluss gemütlich zu traben.

Foto: thomas rottenberg

Epilog

Danach war Wochenende. Gewählt hatten wir schon Tage zuvor, also war da auch kein Stress, sofort den Zug zurück nach Wien zu nehmen.

Stattdessen taten wir unseren Beinen etwas Gutes und spulten im Hotelpool noch ein paar Hundert Meter runter: Das wirkt Wunder.

Zeit? Ergebnis? Egal – es war einfach wunderschön.

Und nur darauf kommt es an. (Thomas Rottenberg, 2.10.2019)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Tom Rottenbergs Startplatz war eine Einladung des Wachau-Marathons.

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