Foto: Carlsen

Das Unwichtigste zuerst: Ich habe keinen Tau, was der Titel bedeutet. Niemand sonst scheint diese Frage gestellt zu haben, was zwei Gründe haben kann: Entweder entgeht mir das Offensichtliche – oder sämtliche Rezensenten waren nach dem Versinken in Vincent Perriots epischer Graphic Novel derart erschlagen, dass sie sich mit solchen Petitessen nicht mehr abgeben wollten.

Letzteres könnte ich durchaus verstehen. Denn "Negalyod" ist ein echtes Erlebnis und führt mit seiner Bildgewalt in jene Ära zurück, in der die Künstler von "Métal hurlant"/"Schwermetall" das Comic-Genre neu definierten. Science Fiction bzw. Science Fantasy à la Moebius trifft hier auf Westernelemente im Stil von "Jeremiah" (Hermann) oder "Leutnant Blueberry" (schon wieder Moebius, allerdings als Jean Giraud). Aber da ein Bild bekanntlich mehr sagt als tausend Worte, lassen wir am besten gleich ein Video sprechen:

EditionsCasterman

Willkommen in der Neo-Kreidezeit

Wir befinden uns in einer fernen Zukunft, in der die irdischen Wasserressourcen weitgehend aufgebraucht sind. Die Menschen leben zusammengepfercht in Mega-Städten, die vom "Netz" kontrolliert werden. Draußen in der Wüste findet man höchstens verstreute Rebellen und Hirten – und jede Menge Flug- und Dinosaurier, die meisten davon als Haustiere genutzt. Woher die gekommen sind, wird nie geklärt werden. Macht aber nichts, weil sie 1) trotz ihrer "Dinotopia"-ähnlichen Allgegenwart nur eine Nebenrolle spielen und 2) buchstäblich ein gutes Bild abgeben.

Hauptfigur ist ein solcher Hirte, Jarri. Vom Cowboy des 19. Jahrhunderts unterscheidet ihn nicht nur die tibetische Mütze, sondern auch der Umstand, dass er eine Herde von Chasmosauriern durch die Landschaft treibt. Als Reittier und zugleich Hütehund dient ihm dabei ein Pachycephalosaurus (das sind die mit dem berühmten Dickschädel). Eines schlimmen Tages verliert Jarri jedoch mit einem Schlag seine gesamte Herde, als ein Wetterlaster – ein rollendes Cloudbusting-Experiment – den Blitz einschlagen lässt. In einem Anfall von Nihilismus verlässt Jarri daraufhin die Hirtengemeinschaft und macht sich in die nächste Stadt auf, um die Verantwortlichen des Wetterexperiments zur Rechenschaft zu ziehen.

Oben und unten

Mit Jarris Ankunft in der Stadt lernen wir die gesellschaftspolitische Komponente von Perriots Worldbuilding kennen. Und die wird sich im Lauf der Zeit als ein bisschen ambivalenter erweisen, als es der erste Anschein erwarten lässt. Zunächst aber drängt sich uns die klassische Zweiteilung von Oben und unten auf. Am – beziehungsweise im – Boden eine Canyon-Stadt, in der es vor Menschen und ihren Nutzdinos nur so wimmelt. Hoch darüber thront ein azurblaues Coruscant; ob freischwebend oder auf den dünnen Stelzen balancierend, die es mit dem Boden verbinden, bleibt der Fantasie überlassen.

Da oben nicht nur die Superreichen leben, dürfte diese Zweiteilung übrigens weniger die Kluft zwischen Elite und Unterschicht abbilden als die zwischen Erster und Dritter Welt. Dafür sprechen auch die Ressourcenströme: Auf der untersten Ebene der Canyonstadt, zugleich der ehemalige Meeresgrund, finden wir gigantische Pumpanlagen, die das letzte Wasser hinauf in die Oberstadt befördern.

Auf jeden Fall herrscht ein extremes gesellschaftliches Ungleichgewicht – kein Wunder, dass es immer wieder im Volk gärt. Jarri lernt einen potenziellen Revolutionär kennen, den bärtigen Prediger Kam (der trotz seines Alters bemerkenswert gut zu Fuß ist, wie uns eine halsbrecherische Verfolgungsjagd zeigen wird ...). Und weil der Plot doch ein bisschen konventioneller als seine optische Umsetzung ist, steuert der Große Kam auch noch in Form seiner Tochter Korienze Jarris angehendes Love Interest bei.

Atemberaubende Bilder

Aber zurück zur optischen Umsetzung, immerhin haben wir es mit einer Graphic Novel zu tun. Wer "Negalyod" liest, sollte schwindelfrei sein, denn sowohl in der Ober- als auch in der Unterstadt spielt die vertikale Komponente eine ebenso große Rolle wie in der Schachtstadt aus dem "Incal". Was übrigens bei weitem nicht das einzige Element ist, mit dem Perriot an den großen Moebius erinnert: Die Landschaftspanoramen, die urbane Architektur, die Flugreisen in bizarren Luftgefährten, die offenbar direkt aus Moebius' Garderobe kommende Montur der städtischen Wächter ... es gäbe Beispiele sonder Zahl. Letzte Übereinstimmung: Das Kolorieren hat Florence Breton übernommen, die auch schon für Moebius gearbeitet hat und hier die einzelnen Panelsequenzen in mit der Umgebung und der Tageszeit wechselnde Farbbäder taucht.

Schwindel – im positiven Sinne – bereitet einem aber auch der beständige Wechsel, was Charakter und Format der Bilder anbelangt. Mehrseitige Panoramen, die sich in majestätischer Stille ergehen, gefolgt von dynamischen Actionsequenzen (etwa eine Dino-Attacke oder eine sehr an "Mad Max" erinnernde Hetzjagd auf einen Truck), gefolgt von Wimmelbildern mit mehr Komparsen als die ganze letzte Staffel von "Game of Thrones", gefolgt von einem tapetenmusterartigen Effekt, den Perriot erzielt, indem er zwecks Illustration der vernetzten Bürgerschaft ganze Seiten in winzige quadratische Panels auflöst, die jeweils ein Gesicht samt Interface zeigen.

Definitiv empfehlenswert

Wo "Negalyod" am ehesten schwächelt, das ist der Plot. Der Schluss lässt einen mit jeder Menge offener Fragen zurück (da könnte eine Fortsetzung aber Abhilfe schaffen), ein als Twist beabsichtigtes Wiedersehen nach Demaskierung kommt etwas konstruiert daher ... und dass Jarri die Sprache der Dinos versteht, hätte auch nicht unbedingt darauf hinauslaufen müssen, dass diese salbungsvolle Einsichten von sich geben wie der Alte vom Berge (außer die hypothetische Fortsetzung liefert für ihre Weisheit eine Erklärung nach). Ist aber ohnehin komplett egal, weil die Optik einfach alles niederbügelt. Große Empfehlung!