Politologe Plasser: "Koalitionspräferenzen sollten nicht als Handlungsauftrag interpretiert werden" – sie werden es aber teilweise.

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Wien – Koalitionsverhandlungen können sich ziehen – das weiß der Politikwissenschafter Fritz Plasser, der am Dienstag zum 15. Mal seine Analyse einer Nationalratswahl vorgelegt hat. Einer Wahl, die nach den Berechnungen von Plasser und seinem Forschungspartner Franz Sommer eine bisher nicht gekannte Veränderung der Parteiwählerschaft der ÖVP gebracht hat. Und damit noch schwierigere Voraussetzungen.

"Was hat Koalitionsverhandlungen bisher in die Länge gezogen? Da ist es um klassisches sozialpartnerschaftliches Verhalten gegangen – was nehmen wir rein, was lassen wir raus?", erinnert sich Plasser an die zahlreichen Akteure im großkoalitionären Kräftespiel. Jetzt gehe es mehr um politische Abwägungen und Rücksichtnahme auf Wählerinteressen. Wenn man etwa an Türkis-Grün denkt: Da gibt es nicht nur Vorbehalte der grünen Basis, die einer Koalition mit der ÖVP in einer Urabstimmung allenfalls knapp zustimmen würde.

Vorbehalte gegen grünen Lebensstil

Es gebe auch in der "alten" (also schwarz geprägten) ÖVP starke mentale Vorbehalte gegen libertine grüne Lebensstile. Und bei den am Sonntag neu dazugewonnenen Wählern – Sommers Berechnung zufolge ist der Wählerstrom von FPÖ zu ÖVP mit 310.000 noch größer als in der Sora-Wählerstromanalyse – sind diese Vorbehalte wahrscheinlich noch größer.

Plasser sieht Schwierigkeiten beim Wechsel von einer bisher als "ordentlich" vermarkteten Mitte-rechts-Politik zu einer Mitte-links-Politik, denn: "Die Wählerschaft der ÖVP unterscheidet sich klar von jener, die wir bisher gekannt haben, wie sie für die ÖVP typisch war in den 1980er- oder 1990er-Jahren. Es ist eine akzentuiertere, teilweise weiter rechts angesiedelte Wählerschaft, das ist bei Koalitionsverhandlungen zu bedenken."

Unangenehme Erinnerungen an die SPÖ

Vor der Wahl hätten sich weder die Grün-Wähler für die ÖVP noch die ÖVP-Wähler für die Grünen erwärmen können. Die ÖVP-Wähler hätten vor allem an die FPÖ, in zweiter Linie an die Neos als Koalitionspartner gedacht. Eine Koalition mit der SPÖ wünscht sich nur jeder 20. ÖVP-Wähler, Gründe sehen die Wissenschafter in unangenehmen Erinnerungen an die letzte "große" Koalition, an die demütigende Abwahl der beliebten Regierung Kurz und an das Verhalten von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagnner (wobei Letzteres von ÖVP-Politik-Profis eher verkraftet würde als von Parteianhängern).

Die Grün-Wähler hätten mit weitem Abstand eine Koalition Grüne mit SPÖ und Neos vor einer Koalition Grüne plus ÖVP und Neos bevorzugt. Aber diese Einschätzungen könnten sich nach der Wahl ändern, räumen die Wissenschafter ein: "Koalitionspräferenzen sollten nicht als Handlungsauftrag interpretiert werden, sie drücken vielmehr Vorlieben der Befragten aus, die sich im Zuge der Dynamik der Koalitionsverhandlungen verändern können."

Emotionale Bindung an Parteien stark gesunken

Und dann? Sommer traut sich keine Spekulation darüber zu, wie viele Stimmen es die ÖVP kosten würde, sollte sie tatsächlich mit den Grünen koalieren – das komme darauf an, welche Performance "eine solche allfällige Regierung" liefere.

Was man aber bedenken müsse – und was sich aus der Langzeitbeobachtung der beiden Wissenschafter klar erkennen lässt: Die Parteibindung der Wahlberechtigten ist im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte immer geringer geworden. Waren in den 1980er-Jahren noch 60 bis 70 Prozent der Wähler emotional an eine Partei gebunden, sind es nach der Wahltagsbefragung von Plasser und Sommer nur noch 32 Prozent. Und, ebenfalls eine Erkenntnis der Wahltagsbefragung: 16 Prozent entscheiden in allerletzter Minute – was den überraschend starken Wechsel von FPÖ zu ÖVP nach den Berichten über die Strache-Spesen erklärt. (Conrad Seidl, 1.10.2019)