Die berühmte Venus von Willendorf gibt noch immer viele Rätsel auf.
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Höhlenmalereien und vorgeschichtliche Objekte hatten einen großen Einfluss auf moderne Kunst, etwa auf Paul Cézanne, Max Ernst und Pablo Picasso. Die meisten bekannten Künstler dieser Epoche waren männlich, und genauso stellte man sich die prähistorischen Kunstschaffenden männlich vor, so wie man auch die längste Zeit Männer als Großwildjäger für die Hauptverantwortlichen für die Nahrungslieferung hielt.

Dabei vermuten Forschende heute, dass damalige Gesellschaften in Bezug auf Hierarchien und Arbeitsteilung zu den egalitärsten Formen menschlichen Zusammenlebens gehören, die jemals existierten. Frauen waren wahrscheinlich nicht in das Rollenbild gepresst, welches ihnen die ersten Prähistoriker aufgrund modernerer Stereotype zuwiesen.

In diesem Kontext bewegt sich auch ein Forschungsprojekt, das sich an der Akademie der bildenden Künste formierte. In Kooperation mit der Privatstiftung Forum Morgen finden im "Dissident Goddesses' Network" Kunstschaffende und Forschende unterschiedlicher Disziplinen zusammen.

Die "andersdenkenden Göttinnen" besprechen und interpretieren Forschungsergebnisse über die Rolle der Frau in der Vorgeschichte aus der Archäologie, der Kunstgeschichte und der Kulturtheorie.

Eine Frage des Zwecks

Schwerpunkt ist dabei Niederösterreich, wo im 20. Jahrhundert gleich zwei kleine Skulpturen des Jungpaläolithikums entdeckt wurden: die berühmte Venus von Willendorf, die vor knapp 30.000 Jahren geschaffen wurde, und die um rund 6000 Jahre ältere Fanny vom Galgenberg, welche nach der im 19. Jahrhundert prominenten Wiener Tänzerin Fanny Elßler benannt wurde – aufgrund der möglicherweise tanzenden Pose.

Bei einem Symposium des Netzwerks kamen kürzlich internationale Forscherinnen und Künstlerinnen im Museum für Urgeschichte (Mamuz) Mistelbach zusammen, um ihre Arbeiten vorzustellen und zu diskutieren.

Fanny und die "Venus" demonstrieren, dass die paläolithischen Frauenfigurinen keine homogene Einheit darstellen. Die Archäologin Christine Neugebauer-Maresch, die 1988 die Einzelteile der Fanny vom Galgenberg fand, beschreibt die Skulptur so: "Sie hat eine extravertierte, geradezu selbstbewusste Haltung mit hoher Muskelspannung. Im Gegensatz dazu ist die Venus von Willendorf ganz in sich geschlossen mit sehr niedrigem Energielevel, man könnte fast sagen: traurig." Ihre Folgerung: "Wenn die Figuren so unterschiedlich sind, werden sie auch verschiedene Zwecke erfüllt haben."

Die Fanny vom Galgenberg hat eine ganz andere Anmutung als die "Venus": Sie scheint zu tanzen.
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Der eines Sexsymbols, wie es die Venus-Benennung suggerieren könnte, zählt wahrscheinlich nicht dazu. Der Namensursprung findet sich im 19. Jahrhundert, der Zeit der ersten prähistorischen Funde. "Viele Archäologen hatten damals eine klassische Bildung und beschäftigten sich sonst mit römischen oder griechischen Figuren", sagt Claudine Cohen, Historikerin der Lebens- und Erdwissenschaften an zwei Pariser Hochschulen.

"Im Gegensatz zur typischen nackten Venus, die ihre Geschlechtsteile verdeckt, war bei der ersten prähistorischen Statuette, die gefunden wurde, die Vulva erkennbar: Man nannte sie 'Vénus impudique', also 'schamlose Venus'." Die Tradition wurde weitergeführt und weitere paläolithische Frauenstatuetten ebenfalls als Venus bezeichnet. Von ihnen gibt es mehr als einhundert, die von Frankreich bis Russland wichtige Zeugnisse damaliger Kunst darstellen.

"Wir wissen nur von sehr wenigen männlichen oder geschlechtsneutralen Figuren aus jener Zeit", sagt Cohen. Bemerkenswert ist auch, dass sich neben der Willendorfer Statuette viele weitere durch große Brüste, Bäuche und Pos auszeichnen.

Pin-up-Girl der Steinzeit

Was in der Vergangenheit vielfach als üppiges Pin-up-Girl der Steinzeit bezeichnet und gar bei der Abbildung auf Facebook als "gefährlich pornografisch" eingestuft wurde, stellt sich für die meisten Wissenschafter heute anders dar: "Die Frau von Willendorf ist kein Sexsymbol", sagt die Vorgeschichte-Spezialistin. "Sie zeigt eine ältere Frau, die wohl schon ihre Menopause hinter sich hat – vielleicht repräsentiert sie die älteren Damen der Gesellschaft, die durch ihr Wissen und ihre Erfahrung sehr nützlich und wichtig waren."

Diese ausgeprägten Merkmale und die Reduktion anderer – wie des Kopfes, der bei vielen Statuetten winzig klein oder gesichtsverhüllend dekoriert ist – sprechen dafür, dass es sich um abstrakte Verkörperungen handelt.

"Zur selben Zeit gab es schließlich auch Abbildungen von Bullen und Pferden in außergewöhnlichem Realismus. Ich denke, es war eine bewusste Entscheidung: Man wollte den menschlichen Körper nicht realistisch darstellen, sondern als eine Art Symbol", sagt Cohen.

Gemeinsame Sprache finden

Auf Basis dieser Symbole möchte Felicitas Thun-Hohenstein, Kunsthistorikerin an der Akademie der bildenden Künste und eine der Projektleiterinnen des Dissident Goddesses' Network, Zugänge zur Interpretation finden. Bis zur Abschlussausstellung sollen diverse künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema zusammenfinden: "Wir gehen erstmals unter feministischer Perspektive auf die Stellung der Frau zu jener Zeit ein, anhand dieser Symbole und Objekte."

Dass die interdisziplinären Veranstaltungen nicht ohne Reibungspunkte ablaufen, ist naheliegend: "Die Angebote sind extrem verschieden, und es gibt durchaus Spannungen zwischen den Beteiligten, allein weil die Sprachen der Archäologinnen, Historikerinnen und Künstlerinnen so unterschiedlich sind", sagt Thun-Hohenstein.

Dabei betont sie, wie wichtig vereinende Faktoren sind. Und während etwa viele feministische Netzwerke in dieselbe Richtung streben, sind die Beteiligten untereinander oft die größten Kritikerinnen. "Was uns fehlt, ist mehr Solidarität zwischen Frauen. Wir sollten versuchen, eine gemeinsame Sprache und einen Schulterschluss zu finden. Gerade dieses Thema kann ein tragfähiges Netzwerk für eine neu zu denkende gesellschaftliche Struktur werden." (Julia Sica, 6.10.2019)