Dank Computersimulationen will man die Konsequenzen politischer Entscheidungen vorhersehen.

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Geht es nach dem Komplexitätsforscher Mirsad Hadžikadic, sollen Politiker auf die Hilfe von Modellierung zurückgreifen können.

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Der Computer als eine Art Labor für Politik? Fragt man Komplexitätsforscher, dann ist das die Zukunft. Datenbasierte Analysen sollen dabei genaue Prognosen für gesellschaftliche Entwicklungen aller Art liefern, meint Stefan Thurner, der den Complexity Science Hub Vienna leitet. Das Hauptwerkzeug dazu nennt sich agentenbasierte Modellierung: die Simulierung einer Gesellschaft am Rechner.

Dazu wird ein virtuelles Umfeld programmiert und mit "Agenten" ausgestattet – die Einheiten im Programm, die wie Menschen interagieren. So sollen die Auswirkungen bestimmter politischer Entscheidungen durchgespielt werden, bevor sie dann in der wirklichen Welt umgesetzt werden.

Globaler Trend

"Der Computer erlaubt uns, ,Was wäre wenn'-Fragen zu stellen und alle möglichen Auswirkungen innerhalb eines Systems zu simulieren", so Brian Arthur vom Santa-Fe-Institut in New Mexico, wo die Komplexitätsforschung vor rund 35 Jahren ihren Anfang nahm. Arthur wurde jüngst vom Datenanalysekonzern Clarivate Analytics als einer der Favoriten für den Nobel-Gedenkpreis für Wirtschaftswissenschaften genannt.

Mögliche Auswirkungen in einer Simulation zu testen ist heute ein globaler Trend: Von der mexikanischen Zentralbank bis zum britischen Immobilienmarkt wird der Werkzeugkasten der Komplexitätsforschung immer häufiger eingesetzt, um Interaktionen aller Art besser zu verstehen, sagt Thurner.

Der von ihm geleitete Complexity Science Hub Vienna wird von mehreren Unis und Forschungsinstituten getragen: von der TU Wien, der Med-Uni Wien, der WU Wien, der TU Graz, der Donauuni Krems, dem Austrian Institute of Technology (AIT) und dem Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA).

Forschung für die Politik

Bisher wurde die Komplexitätsforschung nur gezielt für einzelne Fragestellungen in der Politik angewandt. Ein bosnischer Politiker will das ändern und hat sie jetzt zum Flugsimulator für seine Entscheidungen erklärt.

"Denken Sie an Piloten. Diese müssen so viele Stunden im Flugsimulator verbringen. Politiker sollten durch denselben Prozess gehen", sagt Mirsad Hadžikadic, Professor für Komplexitätstheorie an der University of North Carolina in Charlotte. "Der Satz 'Ich glaube' darf für politische Entscheidungen nicht mehr ausreichen."

Die neuen Werkzeuge könnten in seinem Heimatland Bosnien und Herzegowina neuen Schwung in die festgefahrenen Strukturen bringen, ist er überzeugt. Deshalb gründete er im November 2018 die Partei Platforma za progres, auf Deutsch Plattform für den Fortschritt. Die junge Partei sucht einen Ausweg aus der politischen Lähmung, in der sich Bosnien und Herzegowina seit einigen Jahren befindet.

Mit dem Dayton-Vertrag wurde aufgrund von internationalem Druck ein politisches System geschaffen, dass jedoch den Nationalisten die weitere Spaltung des Landes ermöglichte. Denn in den Parlamenten gibt es zahlreiche Vetomöglichkeiten, und die beiden Landesteile, die Föderation und die Republika Srpska, wurden mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet.

Analyse einer Gesellschaft

Die Nationalisten, die die Teilung in sogenannte Volksgruppen (Bosniaken, Serben, Kroaten) vorantreiben und die weiterhin keinen gemeinsamen Staat wollen, können über diese Strukturen Reformen verhindern und das politische Handeln unterlaufen. Die größten Parteien des Landes nutzen ihre Macht zudem für Postenschacher und instrumentalisieren Polizei, Justiz und Verwaltung für ihre Zwecke.

Platforma za progres ist nicht die erste Partei, die einen Ausweg sucht. Erfolgreich war bisher allerdings niemand. Den Unterschied zu früheren Versuchen sollen Erkenntnisse aus der Komplexitätsforschung ausmachen. Die bosnische Gesellschaft soll mithilfe von Computersimulationen und Datensätzen analysiert werden, um Beweggründe – etwa Wahlmotive – besser zu verstehen und die Politik an den Ergebnissen zu orientieren. Ein Fokus von Platforma za progres sind Reformen des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes – damit soll die aktuelle Auswanderungswelle gestoppt und die junge Bevölkerung angesprochen werden.

Rund 80 Prozent der etwa 4000 Parteimitglieder wurden nach 1985 geboren. Eine von ihnen ist Zorana Tovilovic, eine 22-jährige Medizinstudentin. Sie meint, der Zugang von Platforma za progres zur Politik könne einen Funken für wichtige Veränderungen geben. "Was wir brauchen, ist Qualität in der Bildung, damit wir unsere eigenen Wege finden können", sagt sie. Wie die Reformen am effektivsten sind, sollen Computermodelle ausrechnen.

Schnell irreführend

Doch Modelle, die auf vielen Annahmen beruhen, können schnell irreführend sein. Algorithmen seien nur so gut wie die Überlegungen, die ihnen zugrunde liegen, sagt Thurner vom Complexity Science Hub. Um möglichst robuste Modelle zu bauen, versuchen Forscher, so viele Daten wie möglich zu verwenden und nur die nötigsten Schlüsse auf Theorien zu basieren.

Das ist auch der Ansatz, den Platforma za progres verfolgen möchte. Daher hat die Partei ein Analysebüro geöffnet, das in Zusammenarbeit mit lokalen Universitäten Datensätze zusammenstellen soll – ähnlich einem Umfrageinstitut. Neben agentenbasierter Modellierung wird das Büro mit Statistik, maschinellen Lernverfahren und künstlicher Intelligenz arbeiten – Letztere wird verwendet, um Muster in den Datensätzen zu erkennen, erzählt Hadžikadic.

Laufen mit verbundenen Augen

So wollen sich die Politiker ein genaueres Bild von den Herausforderungen des Landes verschaffen: Dazu zählen neben der Auswanderung auch die instabile Wirtschaftslage, nationalistische Tendenzen und Korruption. "Derzeit laufen wir mit verbundenen Augen. Wir müssen an einen Punkt gelangen, an dem wir sagen können: A führt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu B", sagt Hadžikadic.

Je besser diese Modelle und je genauer die Vorhersagen, desto gefährlicher werden sie, wenn sie für gezielte Manipulation eingesetzt werden, warnt Thurner. Es sei Vorsicht geboten. Wissenschaftliche Erkenntnisse können auch missbraucht werden. Platforma za progres will sich dagegen wappnen, indem sie mit einer überschaubaren Anzahl von ausgewählten Analysten arbeitet und Daten strikt nur häppchenweise zur Beantwortung spezifischer Fragen herangezogen werden.

Bevor die Datensätze zum Einsatz kommen, ist die Partei jetzt damit beschäftigt, Kandidaten für die Lokalwahlen 2020 aufzustellen – der erste große Test für die Bewegung. (Alicia Prager, 2.10.2019)