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Der Kronprinz ist bei vielen saudischen Jugendlichen als sozialer Modernisierer ungemein beliebt.

Foto: Reuters / Faisal Nasser

Ist es ein vorsichtiger Ansatz, politische Verantwortung zu übernehmen – ohne jegliche Konsequenzen natürlich –, oder vielleicht eine Art Beschwerde? Er sei der Boss gewesen, als Jamal Kashoggi getötet wurde, also werde er dafür verantwortlich gemacht, sagt Mohammed bin Salman zu PBS-Reporter Martin Smith in dessen großem TV-Feature über den saudischen Kronprinzen.

Ein Jahr nach dem Verschwinden des Publizisten und früheren Regime-Insiders und späteren -Kritikers im saudischen Konsulat in Istanbul schlägt MbS, wie er meist genannt wird, ein heftiger Wind entgegen. Beim Thema Khashoggi kann er erwarten, dass es wieder in Vergessenheit gerät: In Saudi-Arabien selbst ist es ohnehin nie wirklich eines gewesen. Aber die Angriffe auf Ölanlagen der Aramco Mitte des Monats, deren Schäden vielleicht doch nicht so schnell zu beseitigen sind, und andere "Unfälle" der letzten Tage widersprechen dem Image des glücklichen und sicheren Königreichs, das MbS verkaufen will.

Eine Serie von "Unfällen"

Am Wochenende gab es einen Großbrand im Bahnhof Haramain in Jeddah: Wie sein Name – die beiden Heiligtümer – sagt, fahren von dort die Hochgeschwindigkeitszüge nach Mekka und Medina. Noch mehr Spekulationen gibt es jedoch zum Tod eines "Bodyguards" – de facto ein hoher General – von König Salman. Der Vorfall, bei dem auch der mutmaßliche Mörder erschossen wurde, habe nicht, wie es offiziell heißt, in einem Privathaus stattgefunden, sondern im Königspalast. Das twittert der anonyme Insider Mujtahidd, der nicht immer, aber oft richtige Informationen hat.

Aber am schlimmsten für den Kronprinzen, der gleichzeitig auch Verteidigungsminister ist, sind die Bilder, die die jemenitischen Huthi-Rebellen verbreiten: bei einer Militäraktion auf saudischem Territorium festgenommene saudische Soldaten. Laut Riad sind sie ein Fake – und das ist nicht ausgeschlossen. Aber es ist dennoch eine brutale Erinnerung daran, dass das Königreich viereinhalb Jahre nach Kriegsbeginn im Jemen nicht sicherer, sondern verletzlicher dasteht.

Offizieller Maulkorb

Auch Khashoggi, ein lautstarker Kritiker des Iran, war 2015 für diesen Krieg. In Saudi-Arabien war die proaktive Einstellung von MbS sehr populär. In ein paar Wochen sollte den vom Iran unterstützten Huthis gezeigt werden, wer der Herr auf der Arabischen Halbinsel ist: Saudi-Arabien, Führer der arabischen Welt.

Und damit auch der wichtigste Partner der Region für die USA: Tatsächlich bekam der Publizist Khashoggi einen offiziellen Maulkorb umgehängt, als er die Saudis davor warnte, zu sehr auf den damals neuen Präsidenten, Donald Trump, zu vertrauen. Das drohte dem Beziehungsaufbau zu schaden. Aber Khashoggi hielt nicht den Mund, sondern schrieb ausgerechnet aus den USA weiter, dem wichtigsten Adressaten des saudischen Rebrandings – und kritisierte die zunehmende Repression unter MbS.

Soziale Revolution

Es ist nur schwer verständlich zu machen, dass diese Repression mit einer gleichzeitigen Öffnung – die man ohne Übertreibung soziale Revolution nennen könnte – in direktem Zusammenhang steht. Saudi-Arabien entwickelt sich nicht, es wird derzeit gleichsam in ein neues Zeitalter katapultiert. Die Segregation zwischen den Geschlechtern fällt; die Frauen kommen aus ihrer rechtlichen Unmündigkeit heraus und strömen in die Arbeitswelt; alles an Unterhaltung, was früher islamisch verpönt war, wird erlaubt.

MbS hat die Religion zurückgedrängt zugunsten eines neuen nationalen arabischen Narrativs. Das geht auf Kosten der – neben dem Haus Saud – zweiten Säule des Systems, des wahhabitischen Klerus. Dessen Entmachtung ist ein sensibles Unterfangen, denn die Ultrakonservativen haben sehr wohl Unterstützung in Bevölkerungsteilen.

Ruf nach politischen Reformen

Die andere gefährliche Gruppe ist jene, deren Mitglieder dem Missverständnis erliegen, dass eine soziale Modernisierung nicht reicht, sondern dass Saudi-Arabien auch politische Reformen braucht. Zu ihr gehörte auch Khashoggi. Oder die vielen Frauenaktivistinnen im Gefängnis.

Im vergangenen Jahr hat MbS sein Mastermind für die Überwachung und Verfolgung von Dissidenten verloren: Saud al-Qahtani, laut Eigenbeschreibung "treuer Ausführender der Befehle". Er hatte eine elektronische Armee geschaffen, die vor allem auf Twitter aktiv war. Nach dem Khashoggi-Mord wurde er "entlassen". Vor kurzem kursierten Todesgerüchte, sie sind aber unbestätigt. (Gudrun Harrer, 2.10.2019)