Foto: imago images/Ralph Peters

Pro
von Karin Pollack

Der Alltag ist so eine Sache. Arbeit, Familie, soziale Zwänge und so weiter. Warum also nicht einmal im Jahr alle diese Konventionen über Bord werfen, um sich in einem gut eingezäunten Terrain mit Bier volllaufen zu lassen? Das Bedürfnis scheint groß, sonst würden Oktoberfeste nicht wie Schwammerln aus dem Boden schießen.

Sind die Hemmungen erst einmal wegalkoholisiert, offenbart sich eine das ganze Jahr über total verschüttete männliche Natur. So viele sich umarmende Männer wie auf dem Münchner Oktoberfest sieht man in freier Natur selten.

In den Zelten küssen sich "g'standene Mannsbilder" sogar auf den Mund, liegen sich in den Armen, schwören sich Liebe und Treue.

Wer könnte gegen solche Liebesbekundungen sein? Und ehrlich: Warum nicht all diesen homosexuellen Neigungen Raum geben? Gut also, dass auf Oktoberfesten die soziokulturellen Schranken fallen, die barbusigen Dirndlkellnerinnen unbehelligt bleiben und nur Tarnung sind.

Kontra
von Christoph Prantner

Ausnahmezustand ist ja immer. Der besonnene, sittlich gereifte Mann aber hat die Zügellosigkeit weit hinter sich gelassen. Er sucht den Ausnahmezustand vom Ausnahmezustand. Er will Ruhe, ein Gläschen Taittinger Comtes de Champagne Blanc de Blancs, Rachmaninows drittes Klavierkonzert in d-Moll. Ausschweifungen sind ihm fremd wie der grobe Trachtenjanker: "Dass ich vom Land komm', merkt man eh auch so", raunt er, wenn die grassierende Oktoberfestitis besprochen wird. Dann zieht er die Cordhose hoch, geht in den Garten, schneidet Rosen.

Sicher, früher einmal war er ein echter Haudrauf gewesen. Als er seinerzeit dem Japaner auf der Wiesn in die Maß zu pinkeln versuchte, hätte es beinahe Verwerfungen gegeben. Inzwischen aber genießt er seine Domestizierung, die schon länger währt als der ärgste Kater nach einem zünftigen Bierdulli. Und bei einer Pause vom Ausnahmezustand im Ausnahmezustand? Sind die Burschen zur Stelle: Wo is was los? Drei Bier. Nächste Runde. (RONDO, 7.10.2019)