Stellen Sie sich vor, Sie möchten zum Arzt gehen, müssen aber nach zwei Minuten die Ordination unverrichteter Dinge wieder verlassen. Beziehungsweise Sie unterschreiben einen Vertrag, ohne das Geringste über dessen Inhalt zu wissen. Oder Sie können die Führerscheinprüfung nicht ablegen, obwohl Sie alles über Autos und die Straßenverkehrsordnung wissen. Was haben diese drei Beispiele gemeinsam? Die erwähnten Hürden im Alltag beruhen auf niedrigen Lese- und/oder Schreibkompetenzen. 

Da ist einerseits das Formular, das beim ersten Besuch in einer neuen Ordination ausgefüllt werden muss. Ein anderes Beispiel ist der Mietvertrag, in dem alle rechtlichen und finanziellen Details geregelt sind. Und dann gibt es da noch die theoretische Führerscheinprüfung, bei der mehr als 1.000 Fragen gelesen und beantwortet werden müssen. All diese Lebensbereiche setzen ganz selbstverständlich eine vollständig erworbene Lese- und Schreibkompetenz voraus. 

Wie im vergangenen Blogbeitrag schon erwähnt, leben zirka eine Million Menschen in Österreich, die diese Fähigkeiten nicht (ausreichend) erworben haben. Die Zahl wirkt vor allem deshalb surreal und unerwartet hoch, da wir im alltäglichen Umgang kaum etwas davon mitbekommen. Viele Betroffene nehmen mitunter große Anstrengungen auf sich, um in verschiedenen Lebenssituationen nicht stigmatisiert zu werden.

"Können's mir das schnell mal vorlesen? Ich hab' meine Brille vergessen"

Dabei erschaffen Betroffene oftmals kreative und aufwendige Strategien, um nicht aufzufallen: Der Griff an die Brusttasche kombiniert mit der Bemerkung, die Brille nicht mitzuhaben, ist ein gängiges Muster. Meist wird dann auf das Lesen verzichtet oder eine hilfsbereite Person liest den Text vor. Schlecht zu sehen und eventuell vergesslich zu sein, soll in diesem Fall den Umstand erklären, dass man gerade nicht im Stande ist zu lesen. Das Gegenüber ahnt wohl kaum den wahren Grund.

Weiters gibt es verschiedene Wege, das Schreiben zu vermeiden. Neben kleineren Strategien gehen manche Personen gar so weit, sich die Hände einzubandagieren und eine Verletzung (an der Schreibhand) vorzugeben, um das Schreiben möglichst zu vermeiden. Die Bitte, beim Schreiben behilflich zu sein, wird dann auch meistens gewährt. Schließlich kann die scheinbar verletzte Person keinen Stift in die Hand nehmen. Kaum jemand wird vermuten, dass hier jemand nicht (vollständig) alphabetisiert ist.

Es gibt verschiedene Strategien, um nicht schreiben zu müssen.
Foto: Astrid Klopf-Kellerer

Weniger aufwendig – aber dennoch effektiv – ist hingegen der Vorwand, gerade Stress und Zeitmangel zu haben. Wenn beispielsweise am Arbeitsplatz ein längeres Dokument durchzulesen und zu unterschreiben ist, fällt mitunter der Satz: "Das muss ich mir genauer anschauen. Das lese ich mir zuhause in Ruhe durch und füll das dann aus." Die Aussage suggeriert sogar eine besondere Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Oft werden dann eingeweihte Personen, zum Beispiel in der Familie gebeten, das entsprechende Schriftstück vorzulesen und auszufüllen. Die Kollegen und Kolleginnen in der Arbeit sind hingegen selten involviert. Zu groß ist oft die Sorge, den Arbeitsplatz zu riskieren.

Neben diesen drei genannten Beispielen gibt es noch eine Vielzahl weiterer Strategien, die teils hochgradig kreativ und einfallsreich sind. Bei allen Unterschieden eint die Methoden jedoch der Wunsch, nicht vor anderen Menschen bloßgestellt zu werden. Denn Analphabetismus gilt weiterhin als Stigma und bringt eine Reihe an Vorurteilen und Abwertungen mit sich: mangelnde Intelligenz, soziale Deklassierung und niedrige ökonomische Verwertbarkeit sind wohl die häufigsten Bilder, die in der Gesellschaft dazu kursieren. Doch allein der Einfallsreichtum und die Kreativität zeigen schon sehr gut, dass geringe Schriftsprachkenntnisse nicht zwingend mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz einhergehen. Vielmehr schaffen es die meisten völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit ihre alltäglichen Aufgaben – Kindererziehung, Lohnarbeit, Amtswege – irgendwie zu meistern.

Was tun?

Doch wie sollte man sich am besten verhalten, wenn man ein solches oder ähnliches Verhalten bei einer Personen – zum Beispiel im beruflichen Kontext – beobachtet und vermutet, dass diese Person gerade Schwierigkeiten mit dem Lesen oder Schreiben hat? Darauf gibt es keine einzelne "wahre" Antwort. Aber zumindest ein paar Reaktionen, die sich als angemessen herausgestellt haben:

Hilfreich ist es auf jeden Fall, die Personen nicht bloßzustellen oder vor Anderen zu stigmatisieren. Der Satz "Was, das können Sie nicht!?" wird in der Person gegenüber höchstwahrscheinlich große Scham auslösen und die Situation sicher noch unangenehmer machen als sie ohnehin schon ist. Ein Ansprechen vor anderen Personen wäre also zu vermeiden.

Weiters könnte man in einer solchen Situation schauen, wie man einer betroffenen Person beim Lesen oder Schreiben unterstützt. Nicht im Sinne eines entmächtigenden Eingriffs, sondern mehr als Angebot. Es macht beispielsweise einen großen Unterschied, ob man sagt "Geben Sie her, ich les Ihnen das vor" oder "Wollen wir uns das gemeinsam anschauen und dann bereden, ob Sie noch Fragen haben?". Das zweite Beispiel kann auch einfach nett gemeint sein, ohne dass die betreffende Person in ihrer geringen Lesekompetenz "aufgeflogen" ist.

Das Alfatelefon unterstützt und berät bei Fragen zu Alphabetisierung und Basisbildung.
Grafik: Alfatelefon Österreich

Eine weitere Möglichkeit, wenn man mit einer betroffenen Person zu tun hat: Das Alfatelefon kann umgehend und unkompliziert helfen. Wenn man dort anruft, kann man dort Soforthilfe zum Beispiel bei einem Formular bekommen. Weiters erhält man auch Beratungen und Hilfestellungen für mögliche Kurse.

Vielleicht ist es auch hilfreich, sich an dieser Stelle einfach mal in die letzte Situation zurückzuversetzen, in der man sich geniert oder etwas nicht geklappt hat. Wie hätten Sie sich gewünscht, dass man da mit Ihnen umgegangen wäre? Die meisten würden wohl antworten, dass sie sich Unterstützung, Verständnis, Empathie, Aufmerksamkeit und eine Kommunikation auf Augenhöhe wünschen würden. Wenn man das auch in Situationen praktiziert, in denen man nicht selbst betroffen ist, wäre schon viel erreicht. Natürlich gilt dies nicht nur im Umgang mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen. (Florian Pawlik, 7.10.2019)

Florian Pawlik arbeitet seit einigen Jahren in der Erwachsenenbildung mit Schwerpunkt Alphabetisierung und Basisbildung und ist seit Beginn des Jahres im Projekt Campus Basisbildung aktiv.

Campus Basisbildung (CaBa) ist ein bundesweiter Zusammenschluss mit dem Ziel Bewusstsein und Sensibilisierung für die Themen Basisbildung und Bildungsbenachteiligung zu schaffen. Das Projekt besteht aus: VHS Floridsdorf (Wien), B!LL (Linz), ISOP & Uni-T (Graz) sowie Agenda (Salzburg).

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