Die Teilchenphysik befindet sich aktuell in einer aufregenden wie ungewissen Situation. Bisher bestand stets ein Konsens darüber, was die nächsten Schritte sein sollten. Nun aber gibt es zwei sehr unterschiedliche Richtungen, in die sich die führende Forschungsinstitution auf dem Gebiet – das Europäische Kernforschungszentrum Cern in Genf – entwickeln könnte. Beide haben ihre Anhänger und Gegner.

Der Future Circular Collider (FCC) wäre 100 Kilometer lang und könnte Ende der 2030er Jahre in Betrieb gehen. Er könnte maximale Kollisionsenergien von 100 Teraelektronenvolt erreichen. Zum Vergleich: Der LHC misst 27 Kilometer und kommt auf maximal 14 Teraelektronenvolt.
Illustration: Cern

Einerseits gibt es ambitionierte Pläne für einen Ringbeschleuniger der Superlative: Mit einer Länge von 100 Kilometern wäre dieser Future Circular Collider (FCC) fast viermal so groß wie der aktuell größte Beschleuniger Large Hadron Collider (LHC) und brächte es auf die achtfache Energie. Damit erhoffen sich Physiker Einsichten in noch ungelöste fundamentale Fragen der Physik wie zum Beispiel die Natur der Dunklen Materie. Wie das riesige Projekt finanziert werden könnte, ist allerdings noch nicht geklärt.

Andererseits wird auch der Bau eines Linearbeschleunigers (Compact Linear Collider, Clic) diskutiert. Das wäre eine Variante, die vor allem auf Hochpräzisionsmessungen abzielen würde.

Die Studie zum ambitionierten FCC wird von Michael Benedikt geleitet. Dem Österreicher kommt damit in Bezug auf die Ausrichtung des Cern im Speziellen und die Zukunft der Teilchenphysik im Allgemeineneine Schlüsselposition zu.

Michael Benedikt ist seit 1995 am Cern.
Foto: Robert Hradil/Monika Majer/ProStudio22.ch

STANDARD: Sie sind Studienleiter für den FCC – was sind die Pläne für diesen Beschleuniger?

Benedikt: Wenn man in der Hochenergiephysik Fortschritte erzielen will, kann man das einerseits dadurch erreichen, dass man Messungen mit noch größerer Präzision durchführt. Andererseits, indem man Bedingungen für Kollisionen mit noch höherer Energie schafft. Mit der FCC-Studie verfolgen wir beide Richtungen.

STANDARD: Wie kann das gelingen?

Benedikt: In der Hochenergiephysik geht es immer darum, Kollisionen mit möglichst hohen Energien zu erreichen, damit aus dieser Energie nach Einsteins Formel E=mc2 neue Teilchen entstehen können. Protonen sind dafür etwa besser geeignet als Elektronen, weil sie 2000-mal schwerer sind. Allerdings bestehen Protonen aus Quarks, was die Kollisionen viel unübersichtlicher macht, als wenn Elektronen und Positronen kollidieren, die beide Elementarteilchen sind. Beim FCC wollen wir im 100-Kilometer-Ring in den ersten zehn bis 15 Jahren Elektronen und Positronen zur Kollision bringen. Damit könnten wir viel präzisere Messungen beispielsweise des Higgs-Teilchens machen. Das langfristige Ziel wäre, im FCC Protonen zur Kollision zu bringen, und das mit achtfach höherer Energie als beim LHC. Diese Experimente würden etwa 20 bis 30 Jahre lang Daten sammeln. Insgesamt sprechen wir mit den Planungs- und Errichtungsarbeiten von einem Programm, das 50 bis 70 Jahre benötigt.

STANDARD: Was bringt die Hochpräzisionsmessung von Teilchen, die man bereits kennt?

Benedikt: Das Ziel ist, dass man in extrem genauen Messungen kleinste Abweichungen gegenüber den theoretischen Vorhersagen finden könnte. Das könnte zum Beispiel Indizien für Dunkle Materie liefern.

STANDARD: Das Konkurrenzprojekt zu FCC ist der Linearbeschleuniger Clic. Bis wann wird es eine Entscheidung geben?

Benedikt: Die Diskussionen auf wissenschaftspolitischer Ebene finden derzeit im Rahmen der europäischen Strategie für die Teilchenphysik statt, die bis Mai 2020 abgeschlossen sein sollte. Dann werden wir wissen, in welche Richtung es geht. Es gibt zwei Varianten: den Linearbeschleuniger Clic und den Ringbeschleuniger FCC. Bei einem Linearbeschleuniger gibt es immer nur eine Kollision, wenn sich die Strahlen dann nicht treffen, geht viel Energie verloren. Bei einem Ringbeschleuniger ist viel Energie notwendig, um die Teilchen auf Bahn zu halten, dafür kann man generell in höhere Energiebereiche kommen. Es gibt meiner Meinung nach einen Konsens in der Community, dass der nächste Beschleuniger ein Elektron-Positron-Collider sein soll, um das Higgs-Boson und andere genauer zu vermessen. Beide Projekte würden dieses Ziel erfüllen.

STANDARD: Wie hoch sind die Kosten für den FCC?

Benedikt: Die Kosten teilen sich in drei große Bereiche. Erstens für den 100-Kilometer-Tunnel, die Schächte und Experimentierkavernen sowie Oberflächengebäude. Die Kosten dafür betragen insgesamt etwa 10,5 Milliarden Euro. Davon wären fünf Milliarden für Tunnel, Schächte und Gebäude, zwei Milliarden für die technische Infrastruktur und 3,5 Milliarden für die Beschleunigeranlage.

STANDARD: Für die gesamte Laufzeit werden Kosten von 21 Milliarden Euro kolportiert. Wie ließe sich das finanzieren?

Benedikt: Wie gesagt, dieser nächste Schritt eines Elektron-Positron-Beschleunigers würde etwa 10,5 Milliarden Euro kosten. Die kolportierten 21 Milliarden beruhen auf Schätzungen, die schon das nächste Nachfolgeprojekt beinhalten. Ich denke, so ein Projekt hat auf alle Fälle einen globalen Charakter, das ist kein rein europäisches Projekt. Es ist ja schon heute so, dass die größte Nutzergruppe am Cern Teilchenphysiker aus den USA sind. Man muss also schauen, wie man so ein Projekt global umsetzen kann. Weiters muss man überlegen, wie weit die Sitzstaaten – die Schweiz und Frankreich – ein Interesse haben, langfristig die Zukunft des Cern zu sichern. Die Frage ist auch: Will sich Europa engagieren, um in diesem Bereich an der globalen Spitze zu bleiben?

STANDARD: Bevor Sie sich mit der Zukunft des Cern beschäftigten, waren Sie für die Umsetzung des medizinischen Teilchenbeschleunigers Med-Austron in Wiener Neustadt zuständig. Was haben FCC und Med-Austron gemein?

Benedikt: Ich habe von 1995 bis 1998 in meiner Dissertation am Cern ein Design für einen medizinischen Beschleuniger mitentwickelt, der Protonen und Kohlenstoffionen für Tumortherapien liefern soll. Es hat dann einige Zeit gedauert, doch 2007 hat sich das Land Niederösterreich entschieden, das Projekt zu realisieren. 2013 war die Umsetzung von Med-Austron abgeschlossen. In diesem Jahr wurde beschlossen, dass das Cern Beschleunigerkonzepte für künftige Höchstenergie- und Präzisionsanlagen entwickeln sollte. Damit bin ich nun beschäftigt.(Tanja Traxler, David Rennert, 4.10.2019)

Der Aufenthalt in Genf wurde von der Akademie der Wissenschaften finanziert.