Die Datenjournalistin und Statistikerin Laura Bronner erklärt in ihrem Gastbeitrag die möglichen Ursachen für die Abweichung des Wahlresultats von den Prognosen der Meinungsforscher.

Das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag war für aufmerksame Umfragekonsumenten überraschend: Während die Reihenfolge der Parteien den Umfragen entsprach, lagen mehrere andere Prognosen doch um einige Prozentpunkte daneben. Das Ergebnis der FPÖ lag nach der Wahl bei 16,2 Prozent, ganze 3,7 Prozentpunkte unter dem Mittelwert aller 19 Umfragen seit Anfang August; ÖVP und Grüne hingegen erreichten 2,7 beziehungsweise 2,4 Prozentpunkte mehr als in den Umfragemittelwerten.

Wie wesentlich sind diese Abweichungen im Vergleich zu vergangenen Jahren? Reiht man die letzten Ergebnisse in die Abweichungen aller Parteien bei den vergangenen sechs Wahlen ein, fallen die drei großen Ausreißer 2019 (FPÖ, ÖVP und Grüne) in die Top acht der größten Abweichungen der letzten 20 Jahre. Die verbleibenden fünf sind jeweils auf unterschiedliche Wahljahre verteilt (ÖVP 2002, 2006 und 1999, BZÖ 2008 und SPÖ 2017). Die durchschnittliche Abweichung 2019 liegt somit bei zwei Prozentpunkten, wenn man Parteien unter der Vier-Prozent-Hürde ausschließt (bei Kleinparteien sind Umfragen in der Regel genauer), und somit deutlich höher als die Gesamtabweichungen der Wahlen der letzten 20 Jahre: Diese lagen zwischen einem Prozentpunkt (2017) und 1,8 Prozentpunkten (2002).

Was kann diese Abweichung erklären? Der Verband der Markt- und Meinungsforschungsinstitute (VdMI) nennt einige Gründe für die Fehlbarkeit von Wahlprognosen, wie z. B. "medienwirksame Ereignisse kurz vor dem Wahltermin" und "Last-Minute-Switchers" (Personen, die sich kurz vor der Wahl umentscheiden). Die Spesenaffäre rund um Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, die in der Woche vor der Wahl Schlagzeilen machte, fand zu spät statt, als dass sie in die Umfragen hätte einfließen können (die letzte Umfrage endete sechs Tage vor der Wahl). Der Skandal fällt zweifellos in die Kategorie der medienwirksamen Ereignisse, die Last-Minute-Switchers zum Switchen animieren könnten – zum Beispiel FPÖ-Wähler, die vielleicht stattdessen ÖVP gewählt haben.

Fraglich ist allerdings, ob Umfragen, selbst wenn sie in der letzten Woche vor der Wahl noch stattgefunden hätten, ein solches verändertes Wählerverhalten überhaupt hätten widerspiegeln können. Die Umfragen waren über die zwei Monate, in denen der Wahlkampf stattgefunden hat, so erstaunlich stabil, dass es auf "Herding" hindeutete – also darauf, dass Institute ihre Werte mittels Gewichtung oder anderer Methoden anpassten, um Ausreißer zu vermeiden. Schon allein wegen der verschiedenen Stichproben hätten wir uns mehr Varianz in den Prognosen erwartet als in den Umfragen der letzten zwei Monaten ersichtlich – auch wenn sich in den Wählerpräferenzen selber nichts verändert hätte.

Besser durch Herding

Herding muss nicht unbedingt zu einer Abweichung führen. Die durchschnittliche Umfrage wird durch Herding sogar besser (also weniger abweichend), da Ausreißer oft falschliegen. Aber die Umfragemittelwerte werden insgesamt schlechter, also im Erwartungswert abweichender, und weniger robust gegenüber unerwarteten Ergebnissen, da es sein kann, dass "echte" Veränderungen in den Rohdaten als Ausreißer verstanden werden und demnach entweder nicht veröffentlicht oder so gewichtet werden, dass die Prognosen wieder gleich ausschauen. Meinungsforschungsinstitute stehen hier vor einer enormen Herausforderung, da Ausreißerwerte unverhältnismäßige Aufmerksamkeit erregen können und man sich nie sicher sein kann, ob unerwartete Resultate auf ein unglückliches Sample zurückzuführen sind oder ob es sich um ein echtes Signal einer sich verändernden Meinung handelt. So kann es passieren, dass die ohnehin vorherrschende Meinung erhärtet wird, anstatt durch eine unabhängige Informationsquelle korrigiert zu werden.

Grafik: Der Standard

Schließlich ist empirisch erwiesen, dass Herding nicht immer zu einer Abweichung führt. In jeder der letzten sechs Wahlen gab es bei mindestens zwei Parteien Herding, trotzdem lagen die Umfragen – wie erläutert – relativ richtig. Dennoch führt Herding auch dazu, dass Unsicherheiten im zu erwartenden Wahlergebnis durch die übermäßige Stabilität der Umfragen unterschätzt werden. Dass nicht eine einzige Umfrage die ÖVP bei 37 Prozent, die Grünen bei 14 Prozent oder die FPÖ bei 16 Prozent ausgewiesen hatte – die FPÖ lag in keiner einzigen Umfrage über 21 oder unter 19 Prozent -, macht das Endergebnis natürlich umso überraschender. Dass eine schwarz-grüne Koalition in keiner einzigen Umfrage als Möglichkeit gesehen wurde – nicht einmal in einer Ausreißerumfrage -, lässt ein prognostiziertes Ergebnis als so sicher erscheinen, dass eine Durchschnittsabweichung von den Prognosen, die im internationalen Vergleich nicht einmal besonders groß ist, zu einem Schock führt. (Laura Bronner, 3.10.2019)