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Sam Gregson berichtet vom Chaos Start-up. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden ausgebeutet und müssten ständig um ihren Job fürchten. Schließlich seien sie auch noch der Laune der Gründer hilflos ausgesetzt.

Foto: Getty Images/Tinnakorn Jorruang

Der "Start-up-Spirit" ist infizierend. Er steht für eine moderne Art zu arbeiten: Spaß statt Arbeit, Selbstverwirklichung statt Vorgaben, Freunde statt Chefs. Start-ups versprechen künftigen Mitarbeitern mehr Mitbestimmung, sie stellen ihnen in Aussicht, ihren Job selbst gestalten zu können und die Firma gleich mit. Das macht die Jungunternehmen angeblich so innovativ – und zum Vorbild für träge Großkonzerne. Sie sind auch ein begehrter Arbeitsplatz für Uni-Absolventen.

Hinter den Kulissen sieht vieles ganz anders aus. Das sagt zumindest Sam Gregson. In seinem Buch "The Next Big Thing. Albtraum Start-up-Szene" erzählt der 30-jährige Brite, der mehrere Jahre in Berliner Start-ups gearbeitet hat, eine Geschichte, wie sie auf Gründerevents wohl kaum zu hören sein wird. Er erzählt von Chefs, die die Mitarbeiter erniedrigen, von Ausbeutung, der ständigen Angst, den Job zu verlieren. Er berichtet von Sexismus, Rassismus und Homophobie. Außenwirkung und Realität stünden in der Szene in einem "gravierenden Missverhältnis", stellt er schon im Vorwort in Aussicht.

Nach Berlin ins Start-up

Sam Gregson, der im wirklichen Leben anders heißt, aber anonym bleiben will, studierte in Bristol Geschichte. Danach fing er an, bei einer Werbeagentur in London als Kundenbetreuer zu arbeiten. Schon nach kurzer Zeit begann er, sich zu langweilen, seinen Job einfach nur als Arbeit zu sehen. Er habe sich, wie viele andere seiner Generation, nach einer Tätigkeit gesehnt, die Sinn stiftet, nach einem Job "der mich interessierte und in dem ich mich einbringen konnte", schreibt er. Hierarchien erschienen ihm lästig und antiquiert, und er wollte sich ihnen nicht unterordnen.

Auch Gregson war von Start-ups und der Art, wie dort angeblich gearbeitet wird, angezogen. 2014 ging er also nach Berlin, der Start-up-Stadt schlechthin, und arbeitete dort für zwei verschiedene Jungunternehmen. Und tatsächlich: Eine formale Hierarchie gab es dort nicht. Aber die damit verbundenen Versprechen erfüllten sich nicht.

Dieser Text ist im Magazin Der Standard Karriere am 10.10.2019 erschienen. Erhältlich ist das Magazin hier.

Schon die Funktionsbezeichnungen irritierten Gregson. Bei der ersten Firma, in der der Brite arbeitete, sei fast jeder "Manager" gewesen – und wenn nicht Manager, dann "Ninja" oder "Guru". Auf Gregsons Visitenkarte habe etwa "Junior Marketing Guru" gestanden. Die Rollen und Verantwortungsbereiche der Mitarbeiter seien dabei nicht klar vorgegeben gewesen. Gregson schreibt: "Mein Job war es, meinen Job selbst zu definieren." So könne jeder das tun, was er wirklich möchte, Sinn beim Arbeiten finden, lautete das Versprechen. "Jeder arbeitete in dieser glitzernden neuen Welt von Daten und harten Fakten einfach nach Gefühl."

Launische Gründer

Mitarbeiter sollten nicht mehr reine Befehlsempfänger sein und ausführen, was sie "von oben" angeschafft bekommen. Das Motto: "Du arbeitest so, wie es dir angemessen erscheint, du leistest deinen Beitrag zum Unternehmen, gestaltest es nach deinen eigenen Vorstellungen mit, machst es so quasi zu deinem eigenen." Wie das funktioniert? Gar nicht, merkte Gregson. "In Wirklichkeit existiert natürlich eine Hierarchie, und zwar eine ganz direkte." Und ohne irgendwelche Strukturen würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ganz unmittelbare Weise damit konfrontiert. "Die Firmenleitung will noch immer Entscheidungen treffen, deshalb bleibt die Macht genauso konzentriert wie in den traditionellen Unternehmen. Sie regieren die Firma, geben Anweisungen, verlangen, dass bestimmte Dinge erledigt werden."

Ohne formale Hierarchie entscheide letztendlich allein die Laune der Gründer darüber, welcher Vorschlag umgesetzt, welches Projekt weiterverfolgt wird – oder eben nicht. Die Belegschaft sei zwischen zwei uneinigen, eitlen Chefs aufgerieben worden. Die Arbeit im Start-up sei "das pure Chaos, und nein, kein kreatives Chaos".

Auch davon, wie Start-ups ihre Mitarbeiter ausbeuten, berichtet Gregson. Er schreibt von viel zu langen Arbeitstagen, einem schlechten Gehalt und unsicheren Arbeitsverträgen. Viele würden, trotz arbeitsintensiver Aufgaben, in einem Praktikanten- oder Werkstudentenverhältnis arbeiten. "Mir ist nie jemand mit einem unbefristeten Arbeitsverhältnis begegnet."

Was ihn und seine Kollegen verfolgte, war eine ständige Jobunsicherheit. "Es gibt nichts Langfristiges. Keine Altersvorsorge, keine Stabilität." Das habe sich auch im Arbeitsalltag ausgewirkt: "Man wollte keinen falschen Schritt tun." Kritik zu äußern, um ein höheres Gehalt zu bitten, beschreibt er als Dinge der Unmöglichkeit.

Ständige Unsicherheit

Es habe auch keinerlei Angebote zur Weiterbildung gegeben, geschweige denn eine Personalabteilung. "Es gab niemanden, an den man sich hätte wenden können", so Gregson. Anstatt einer Personalverantwortlichen sei eine Happiness-Managerin eingestellt worden. "Sie verteilte Süßigkeiten und Kuchen an die Mitarbeiter oder verkündete, wenn es etwas zu trinken gab." Bei Problemen bei der Arbeit habe sie nicht geholfen.

Die Gründer ließen sich offenbar einiges einfallen, um über die Missstände hinwegzutäuschen. Durch Tischkicker, Gratisgetränke und wilde Partys sollte laut Gregson "das Bild einer großen, glücklichen Familie" erzeugt werden. Alkohol, Kokain und andere Drogen sollten die Belegschaft zusammenschweißen. Für den jungen Mann war das reine Kosmetik. Er findet: "Für ein Start-up zu arbeiten ist sowohl finanziell als auch politisch prekär."

Gregson schreibt in seinem Buch außerdem von Sexismus, Rassismus und Homophobie. Am ausführlichsten berichtet er von der herablassenden Haltung gegenüber Frauen. Er habe miterlebt, wie über sie als "Miststück", "Schlampe" oder Nutte geredet wurde. Wie Kolleginnen als Sexobjekte behandelt wurden, am Arbeitsplatz und auf Parties. "Arme wurden um Schultern gelegt, Frauen von Männern an sich gezogen, deren Nähe sie ganz offenkundig nicht haben wollten. Ich sah Hände, die Hintern tätschelten oder zwickten – und Schlimmeres", schreibt Gregson. "Ich sah, wie diese Typen Frauen aufforderten, mit ihnen nach Hause zu kommen oder sich ein bisschen aufreizender anzuziehen."

Wer sich für die Kolleginnen einsetzte, sei "Schwuchtel" oder "Schlappschwanz" genannt worden. Als Ursache für den herrschenden Sexismus sieht der Brite eine "toxische Männlichkeit": In Start-ups arbeiteten hauptsächlich weiße Männer mit einer gewissen Vorstellung von Erfolg, die nach einem verbindenden Element suchen.

Aus der Machokultur

Aber auch um Lösungen für die adressierten Probleme bleibt Gregson nicht verlegen. "Erstens glaube ich, dass die Gewerkschaften eine größere Rolle dabei spielen müssen, die Mitarbeiter mit mehr Freiheiten und Befugnissen auszustatten." Zudem müssten auch die Mitarbeiter selbst ihre Probleme ansprechen und dabei von einem Betriebsrat unterstützt werden. Die "Machokultur" in Start-ups müsse "einer sanfteren, inklusiveren Arbeitsweise Platz machen". Es brauche auch einen besseren Zugang zu Schulungen und Weiterbildung. "Und vielleicht sollte man auch das angeblich so kreative Chaos in diesen Firmen kritischer sehen."

Gregson ist sich sicher, dass es sehr wohl möglich ist, beides zu haben: "Einen Tischkicker und eine gesellschaftlich verantwortungsbewusste Firma. Bier im Kühlschrank und eine gesunde, faire Unternehmenskultur. Nichts, absolut nichts spricht dagegen, so etwas entstehen zu lassen." (Lisa Breit, 28.10.2019)