Wie beurteilen Sie als Uniprofessoren und Karrierenforscher Hierarchien? Wolfgang Mayrhofer und Michael Meyer von der Wirtschaftsuniversität Wien geben Auskunft.

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sind Sie als Uniprofessoren und Karrierenforscher Freunde der Hierarchie?

Meyer: Ich bin ein Leidtragender von Soziokratie – ich habe, so wie viele andere auch, in Sozialunternehmen investiert. Die sind gescheitert mit dem Versuch, eine völlig neue Organisationsform aufzubauen, die Bürokratie und Hierarchie abschafft. Offensichtlich war das keine erfolgreiche Antwort auf die gute alte Hierarchie. Ob sie nur daran gescheitert sind, weiß ich nicht. Aber es war ein wesentlicher Grund.

STANDARD: Warum hat sie nicht funktioniert, diese demokratische, soziokratische Organisationsform?

Meyer: Weil sie eine Ungleichheit durch eine andere ersetzt. Soziokratie gibt denen mehr Macht, die mehr Zeit haben – und das sind nicht unbedingt die Smarteren. Sondern eher diejenigen, die nichts anderes zu tun haben, als permanent zu diskutieren und überall dabei zu sein.

Mayrhofer: Ich frag mich immer: Was meinen die Leute, wenn sie von Hierarchie sprechen. Es ist ein bissl ein Allerweltsbegriff und ein Kampfbegriff. Hierarchie und Macht sind unvermeidbar. Das muss man einmal dick und fett ins Stammbuch schreiben. Ich werde immer ganz unruhig, wenn Leute sagen: Keine Hierarchie, sondern ganz etwas anderes bitte. Jeden Tag neu aushandeln, was wer gerade ist – fragen Sie mal Menschen in agilen Organisationen, wie es ihnen geht! No ranks, no titles ist cool, aber nicht nur. Die Frage ist: Wofür kann ich das klassische Tool nutzen, wofür nicht?

STANDARD: Holokratie war zuletzt gehypt, nun ist es wieder stiller geworden um diesen Hierarchie-Ersatz. Geht es immer nur um Moden?

Meyer: Mein Lieblingszitat dazu stammt vom Kabarettisten Josef Hader: Man sollte sich nicht auf jede Sau setzen, die durchs Dorf getrieben wird, sondern sich fragen, warum sie gerade jetzt durchs Dorf getrieben wird. Und vor allem: Was passiert in der Nebenstraße? Das Ende der Hierarchie auszurufen hat eine Funktion.

Mayrhofer: Richtet sich nicht ein Gutteil der Kritik gegenüber der Hierarchie gegen überzogene Starrheit und Scheinklarheit? Wo steht denn, dass eine Hierarchie aus verfeindeten Silos bestehen muss und die Menschen unterdrücken? Und wo werden andere Organisationskonzepte wirklich gelebt – der Anteil solcher Unternehmen ist verschwindend gering.

STANDARD: Auf Homepages sind Organigramme in Form von hierarchischen Pyramiden nicht sehr modern ...

Meyer: Auf den Homepages sehe ich Gesichter und Titel, die kaum irgendeine Auskunft geben. Es ist pfui, Hierarchie dort zu dokumentieren, das gilt nicht als Superbrand für einen attraktiven Arbeitgeber. Es soll signalisiert werden: alles flach bei uns, alles auf Augenhöhe. Da drängt sich doch der Verdacht auf, dass sich in der Nebenstraße etwas abspielt ...

STANDARD: Wie komme ich drauf, was sich wirklich abspielt?

Meyer: Üblicherweise sind die Älteren nicht die Ohnmächtigeren. Da hilft auch kein Vorgaukeln mit der Du-Kultur. Außerdem ist es leichter, jemanden per Du rauszuschmeißen.

Mayrhofer: Das ist leichter?

Meyer: Ja klar, bei allem: anschaffen, rausschmeißen, alles viel lockerer mit so einem Du ...

Mayrhofer: Gut, Sie Trottel sagt sich schwerer. Aber mir fiele es viel schwerer, ein Du rauszuschmeißen als ein Sie.

STANDARD: Wie ist es bestellt um die Zukunft der Hierarchie – wird sie von den Jungen abgeschafft? Oder erlebt sie mit der Sehnsucht nach Orientierung, Klarheit und Leadership gerade eine Renaissance?

Mayrhofer: Renaissance – war sie denn je weg? Ich glaube nicht, dass das alte Hierarchiemodell zurückkehrt. Die Zeiten eigener Vorstandsaufzüge, die Zeiten, in denen Chefs möglichst nie ihrer Mitarbeiter ansichtig werden, sind definitiv passé. Ich beobachte bei unseren Studierenden: Die sind gar nicht so führungskritisch, sie wollen Struktur und Klarheit, allerdings: Es reicht nicht zu sagen, dass es halt so ist, weil es immer so war. Dialog wird eingefordert. Führungskräfte werden hinterfragt. Das macht es anstrengend!

Meyer: Es ist wohl eher eine Ernüchterung. Was den 68ern Ende der 70er passiert ist, hat sich hier wiederholt: Der Glaube, dass klassische Organisationsformen in Wirtschaft und Verwaltung durch den Himmel auf Erden ersetzt werden können, ist nicht wahr geworden.

STANDARD: Das klingt nach einer Art gesundem Einpendeln, quasi die reformierte, reflektierte Hierarchie ...

Mayrhofer: Ja. Altes wankt, aber es muss nicht weggeschmissen werden. Ich glaube, wir befinden uns in einem Korridor des Einpendelns, das liegt auch an einem anderen Menschenbild im Arbeitskontext.

Meyer: Unternehmen, die versuchen, eines – die Hierarchie – durch das andere – eine demokratische Organisationsform – zu ersetzen, sind auf einem Irrweg. Es endet ziemlich sicher in interner Zerstörung.

STANDARD: Es geht also um die jeweils richtige Mischung der Instrumente. Die Botschaft an Organisationsentwickler und ihre Auftraggeber ist "Bleibt locker, Leute"?

Mayrhofer: Überforderung bei radikalen Umstellungen ist sowieso immer ein großes Thema. Ich bin kein Evolutionsbiologe, aber wir sind ja nicht agil aus der Höhle herausgekommen – Hierarchie ist nützlich. Mit flexibler Anpassung.

Meyer: Wir haben keine brauchbare Alternative zur Hierarchie, die reibungslos für alle funktioniert. Auch eine informelle Hierarchie ist eine Hierarchie. Melange und Vielfalt sind es für mich in der Frage der Organisationsformen. Es gibt keinen one best way. Es gibt keinen reinen Pfad. (Interview: Karin Bauer, 30.10.2019)