Zynische Beobachter mögen meinen, dass es eine Frage der Zeit war, bis die Gewalt in Hongkong richtig hässlich wird. Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschoße – seit über 17 Wochen setzt die Polizei immer härtere Mittel gegen die Massen auf den Straßen ein. Auch Teile der Demonstranten professionalisieren ihr Vorgehen, sie vermummen sich und werfen Molotowcocktails. Es war also befürchtet worden, dass die Polizei mit scharfer Munition schießt – und einen Demonstranten trifft. Andere hofften bis zuletzt auf die Vernunft beider Parteien, auf die Deeskalationskapazitäten der Polizei; kurzum: darauf, dass die Gewalt in Hongkong nicht aus dem Ruder läuft.

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Demonstranten fliehen in Hongkong vor von der Polizei eingesetztem Tränengas.
Foto: REUTERS/Jorge Silva

Sie wurden diese Woche enttäuscht, als ein Polizist den 18-jährigen Tsang Chi-kin aus nächster Nähe im Brustbereich traf – aus Notwehr, wie der Beamte später angab. Nach einer Not-OP ist der Schüler zwar außer Lebensgefahr, auf den Straßen entbrennen nun aber erst recht heftige Proteste. Die Menschen demonstrieren nicht mehr bloß für den Erhalt der Hongkonger Demokratie und gegen Peking – sondern auch für Tsang Chi-kin.

Das harte Vorgehen der Polizei könnte somit nach hinten losgehen. Die Demonstranten haben in Tsang ein neues Ventil für ihre Wut gefunden, eine neue Symbolfigur, die all den Ärger gegen Peking bündelt. Und so hat die Regierung gleich zweimal verloren. Moralisch ist der Einsatz von scharfer Munition ohnehin höchst fragwürdig. Aber auch taktisch eröffnet er den Demonstranten Tür und Tor für weitere Proteste. Er kurbelt die Gewaltspirale an, anstatt zu deeskalieren. Und er heizt die Befürchtungen all jener an, die sich 30 Jahre zurückerinnert fühlen, an die brutale Niederschlagung auf dem Tian'anmen-Platz. Es bleibt zu hoffen, dass der Schuss auf Tsang nicht der Startschuss für viel massivere Gewalt in Hongkong war, sondern eine verirrte Kugel, die passiert ist, aber nie hätte passieren sollen.(Anna Sawerthal, 3.10.2019)