Moritz Csáky, "Das Gedächtnis Zentraleuropas – Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region". 50,00 Euro / 392 Seiten. Böhlau-Verlag, Wien 2019

Cover: Böhlau

Die Südosterweiterung der Europäischen Union ist bis auf weiteres auf Eis gelegt, trotz gegenteiliger Beteuerungen aus Brüssel. Die bald nur noch 27 EU-Staaten sind vor allem mit sich selbst beschäftigt, jeder auf seine Art – und unterscheiden sich damit nicht sonderlich von den abtrünnigen Briten.

Werden die Länder des Westbalkans weiter links liegen gelassen, dann wirkt sich das letztlich auf das gesamte europäische Projekt negativ aus: Das prophezeiten die "üblichen Mitteleuropa-Verdächtigen" Erhard Busek und Emil Brix in ihrem im Vorjahr erschienenen Buch Mitteleuropa revisited. Was sie meinen: Die Europäische Union muss sich substanziell ändern, um den Herausforderungen von heute gerecht zu werden. Und die Verhältnisse in Ostmittel- und Südosteuropa, inner- wie außerhalb der EU, stehen paradigmatisch für diese Herausforderungen.

Der Kulturhistoriker Moritz Csáky spannt den Bogen weiter. In seinem jüngst veröffentlichten Werk Das Gedächtnis Zentraleuropas stellt er das Erbe in den globalen Kontext. Csáky vermeidet den Begriff Mitteleuropa, weil dieser "eindeutig politisch konnotiert" sei, nämlich im Sinne einer deutschen Hegemonie entsprechend Friedrich Naumanns berühmter Abhandlung Mitteleuropa aus dem Jahr 1915. (Was Busek und Brix für "ihr" Mitteleuropa sicher nicht gelten lassen würden.)

Wie auch immer – Zentraleuropa ist für Csáky "vor allem ein besonders gutes Beispiel für sozial-kulturelle Verflechtungen, für von Differenzen dominierte kulturelle Formationen, oder: für einen in jeder Hinsicht 'mehrsprachigen' kulturellen Kommunikationsraum".

Der Begriff "Mitteleuropa"

Sich mit diesem vieldimensionalen, schwer definierbaren kulturellen Phänomen zu befassen sei eben kein Selbstzweck von Intellektuellen, sondern könne einer globalisierten Welt wertvolle Erkenntnisse liefern. Von Vielschichtigkeiten und Differenzen geprägt, hinter denen aber doch immer wieder ein gemeinsames Verständnis durchblitzt: So erweist sich Zentraleuropa als Versuchsfeld und Chiffre für ähnliche Prozesse und Verflechtungen im globalen Rahmen.

Mit Blick auf den Zustand der Europäischen Union lassen manche literarische Beispiele in dem Buch schmunzeln. Franz Kafkas Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer interpretiert Csáky als verschlüsselte Darstellung von Verunsicherung und wachsendem Identitätsverlust in der Habsburgermonarchie mitten im Krieg.

Während er an dem Text arbeitete, wurde Kafka von dem Wiener Schriftsteller Fritz Lampl aufgefordert, einer Vereinigung von österreichisch gesinnten Künstlern und Künstlerinnen beizutreten, die sich der Idee des Habsburgischen Gesamtstaats verschreiben sollten. Kafka lehnte ab, weil er nicht imstande sei, "mir ein im Geiste einheitliches Österreichertum klar zu machen und noch weniger allerdings mich einem solchen Geistigen ganz eingefügt zu denken".

Dann aber fügte er an: "Sollte, wie es sich vielleicht nicht verhindern lassen wird, aus Ihrer Vereinigung ein Verein mit Mitgliedsbeiträgen u.s.w. werden, trete ich als Mitglied gerne bei. (...)"

Und was Hermann Bahr 1912 in einem Brief an Rainer Maria Rilke zum Zustand der Monarchie schrieb, klingt wie die Kurzcharakteristik der EU: "... eine chronisch gewordene Vorläufigkeit". (Josef Kirchengast, 5.10.2019)