"Will alles, ohne sich anzubiedern": Schriftsteller Norbert Scheuer.

Foto: Elvira Scheuer

Es beginnt idyllisch. Sehr idyllisch. Scheinbar idyllisch. Ein kleines Bergarbeiterstädtchen, durch das ein Fluss fließt, der sich seinerseits durch das Urftland, eine hügelige, einsame und zerklüftete Landschaft, schlängelt. Ein karger Landstrich im Westen Deutschlands, die Grenze zu Belgien ist eine Handvoll Kilometer entfernt.

Doch das Datum, das über dieser ersten Lokalisierung steht, lässt das Ganze kippen. 1944. Der Zweite Weltkrieg steht in seinem fünften Jahr. In dieser Ortschaft lebt Egidius Arimond, seines Zeichens leidenschaftlicher Imker und frühpensionierter Schullehrer.

Die Krankheit, deretwegen er vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurde, ist erbliche Epilepsie. Dies lässt ihn unter dem Signum des Nationalsozialismus zum prospektiven Opfer werden.

Einer Zwangssterilisation musste er sich bereits unterziehen. Internierung und möglicher Deportation ist er bisher entkommen, weil sein jüngerer Bruder ein ausgezeichneter Kampfflieger ist. Dessen Reputation schützt ihn.

Überleben

Nur gehen Egidius – der in Gemeindearchiv und -bibliothek die Geschichte eines Vorfahren recherchiert: eines Mönchs namens Ambrosius, der 1489 in Südtirol von einem Bischof in seine Dienste genommen wurde, der das Herz von Nikolaus von Kues nach Norden transportieren wollte, was fehlschlug, später wurde Ambrosius, Mönch geworden, seines Klosters verwiesen, weil er sich verliebt hatte, gründete eine Familie und war der erste Bienenzüchter der Arimond-Linie – im Lauf des Kalenderjahres die seine epileptischen Anfälle lindernden Medikamente aus.

Diese vor Ort zu bekommen wird angesichts eines schikanösen Apothekers immer erniedrigender und teurer – bisher konnte er das Geld durch das Schmuggeln von Juden in großen Bienenkästen hinüber nach Belgien aufbringen; kaum einer kennt sich in dem aufgelassenen Bergwerksstollen so gut aus wie Egidius.

Doch es wird gemunkelt im Ort. Liebestreffen mit mehreren Frauen helfen zumindest emotional kurz über seine immer größere Lebensangst hinweg. Über Wasser kann er sich durch den Tausch von Honig und Kerzen halten.

Doch ab August – inzwischen ist der Ort nicht nur überladen mit überall einquartierten Soldaten, sondern die Alliierten rücken immer näher, und die Stadt wird regelmäßig Ziel von Bombardierungen – gerät er direkt in den Fokus der Gestapo. Nach drei Wochen wird er unverrichteter Dinge überraschend wieder entlassen.

Doch im Spätherbst und Frühwinter ist er hilfloses Opfer immer stärkerer Anfälle, seine medizinische Hilfsration schrumpft. Dank einer Frau überlebt er die ersten vier Monate 1945.

Dann wird die Stadt von der US Army befreit, was er, Wochen lang in einem Schleier des maximal halbwachen Halluzinierens befangen, erst realisiert, nachdem die Amerikaner ihm die überlebenswichtigen Medikamente zur Verfügung stellen und er sich physisch wieder fängt – im Jahr zuvor hatte er einen abgeschossenen Piloten in einem Stollen gerettet, der sich anschließend auf eigene Faust zu den eigenen Truppen durchschlagen wollte und einen Dankesbrief bei Egidius hinterlassen hatte.

Frieden, endlich, ist da. Und dann endet alles jäh in einem völlig überraschenden Finale, in dem die Idylle buchstäblich in die Luft gesprengt wird.

Psychologie und Komposition

Man muss nicht wissen, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, auch wenn Scheuer, dieser 68-jährige, in der deutschen Eifel lebende Schriftsteller, der erst mit 52 Jahren literarisch debütierte – er, gelernter Elektriker, hatte auf dem Abendlyzeum die Matura nachgeholt, erst Physik studiert, dann Philosophie, promovierte über Kant und arbeitete anschließend lange als Systemprogrammierer -, dies in seiner Danksagung erwähnt.

An dieser ruhigen Prosa ist nichts Erzwungenes. Mit sonorem, von keinem falschen Ton getrübtem Ernst strömt sie psychologisch subtil über die Seiten. Auch die Dramaturgie ist schlüssig. Die Tagebucheintragungen verdanken sich nicht eines gefinkelten Kunstgriffs, sondern Egidius führt sein Diarium, um zu verhindern, dass er ins Vergessen fällt, um also die neurologischen Lücken zu kompensieren, die durch die Anfälle bewirkt werden.

Ebenso kompositorisch mit stilsicherer Hand eingewoben sind die fragmentarischen Aufzeichnungen des Ambrosius. Alles kreist um Seelenheil und Todesgefahr, um Moral und Lebenslust. Dieser Egidius Arimond ist ein so komplexer, reicher, sympathischer und tiefgehender Charakter, wie ihn die deutschsprachige Literatur in jüngerer Zeit äußerst selten hervorgebracht hat.

Würde dieser Band, ein Glücksfall, auch weil er sich jenseits aller feuilletonistischen Moden bewegt, nicht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, wäre dies ein fatales Signal. Für die Kritik. Norbert Scheuer ist ein Autor, der alles will, ohne sich anzubiedern. Ein großer Roman. (Alexander Kluy, 5.10.2019)