Mit Jim Sclavunos und Thomas Wydler unterbeschäftigt Nick Cave zurzeit gleich zwei Schlagzeuger bei den Bad Seeds. Was genau ihre Aufgabe bei der Herstellung von Ghosteen war, wissen nur sie. Ghosteen heißt das neue Album von Nick Cave. Wer sich davon endlich wieder klassisches Songwriting im Stile eines Weeping Song erwartet hat – sorry, das ist nicht eure Platte.

Ghosteen ist eine Nachtfahrt. Für Nick Cave beschreibt es den Abschluss einer Trilogie. Die hat mit dem 2012 erschienenen Album Push The Sky Away begonnen, dann dachte das Schicksal dem 2016 veröffentlichten Skeleton Tree einen dramatischen Höhepunkt zu: Vor der Veröffentlichung dieses Werks starb Caves Sohn Arthur bei einem Unfall. Wiewohl die Arbeit schon davor abgeschlossen war, wirkte sie, als übersetze sie die Trauer ihres Schöpfers. Tatsächlich ist Ghosteen dieses Album.

Fragt mich, was ihr wollt

Angekündigt hatte Cave es lapidar letzte Woche. Der gerade 62 Jahre alt gewordene australische Musiker betreibt seit mehreren Monaten die Website Red Hand Files. "You can ask me anything", stand dort zu Beginn zu lesen, und so kam es. Fans (und einige Trolle) stellen Fragen an Cave. Banales, Persönliches, Ungewöhnliches, und Cave antwortet. Manchmal kurz, meist jedoch in angemessener Länge. Seine Antworten sind einfühlsam und weise, ohne auf einem diesbezüglichen Monopol zu insistieren, im Gegenteil: Der Zweifel führt bei der Beantwortung sehr oft seine Hand. Auf die Frage, wann ein neues Album erscheinen würde, kam Caves Antwort: nächste Woche.

Donnerstagabend war es so weit: Auf Youtube feierte Ghosteen seine Weltpremiere. Parallel dazu kam es auf drei Kontinenten zu 33 offiziellen Listening-Sessions, bei denen Cave-Gläubige dem Album exklusiv lauschen konnten. Es ist ein zweiteiliges Werk, ab sofort digital zu erwerben, Anfang November gibt es physische Tonträger davon.

Nick Cave: Spinning Song.
Nick Cave - Topic

Illustrierte das schwarz gehaltene Cover von Skeleton Tree bereits seine Stimmung, so verhält sich das Artwork von Ghosteen krass gegensätzlich. Im Stile des den Augenkrebs begünstigenden Phantastischen Realismus ist eine paradiesisch anmutende Szene zu sehen. Ein Lamm rastet friedlich vor einem Löwen an einer Quelle, ein Schimmel labt sich daraus, bunte Vögel stehen herum, eine ebensolche Flora bildet den Rahmen.

Falsettiert sich in lichte Höhen

Cave und die Bad Seeds eröffnen mit dem Spinning Song. Darin taucht mit dem "King of Rock'n'Roll" ein altes und beliebtes Sujet Caves auf. Über Soundflächen und Loops spricht er mehr, als er singt. Erst später hebt er richtig an, und so hat man ihn noch nicht oft gehört: In lichte Höhen falsettiert er sich, während die Musik ihm ein weiches Bett für den Absturz errichtet: "Peace will come in time", prognostiziert und ersehnt er.

Das Cover.

Ghosteen ist eine Verniedlichungsform von Ghost, von Geist. In den wenigen Informationen, die zum Album erhältlich ist, beschreibt Cave diesen als ein wandelbares und wanderndes Wesen. Das konveniert mit dem Duktus hier. Der ist zärtlich, nachdenklich, erblüht stellenweise wie ein keckes Pflänzchen nach langer Nacht. Cave wirkt dabei, als wollte er sich die Unschuld eines verlorenen Kindes erhalten, dessen unvoreingenommene Sicht auf die Welt bewahren, die das Gute vor dem Schlechten sieht.

Auch Trollen reicht er die Hand

Bereits seine Antworten in den Red Hand Files heben die Trennung von Künstler und Mensch bewusst auf. Wo früher Zynismus geherrscht hat, gönnt Cave sich und seinem Publikum jetzt eine bedingungslose Offenheit. Nicht einmal die Trolle unter den Fragestellern gibt er verloren, sogar ihnen reicht er die Hand.

Nick Cave: Waiting For You.
Nick Cave - Topic

Aus dieser Haltung entstand dieses Album. Es ist keine missionierende Kunst, keine geschwätzige Predigt wie noch auf dem Album No More Shall We Part. Das überträgt er in Waiting For You einem "Jesus Freak". Er selbst lässt sich von einem zärtlichen Chor erheben. Die Musik dazu ist oft nicht mehr als ein Klöppeln, ein paar Klaviertupfer, im Hintergrund streicht jemand einen Bogen über die Saiten.

Ein großzügiger Erzähler

Cave ist einen weiten Weg gegangen: vom unnachgiebigen Junkie-Punk, als der er begonnen hat, zum Edel-Giftler, zum geläuterten Familienvater, zum reflektierten, nachgiebigen, großzügig sein Herz öffnenden Erzähler. Ob man das auf einer Länge von 70 Minuten braucht oder ob es 40 nicht ebenso getan hätten, mag das Publikum entscheiden. Die zweite Hälfte der Arbeit besteht aus zwei sehr langen Songs und einem gesprochenen Zwischenstück. Da erwischt einen schon ein wenig die Lidschwere.

Im ersten Teil unterliegt die Behäbigkeit allerdings deutlich der Schönheit, die sie befördert. Caves Balladen waren oft die am meisten berührenden Stücke auf seinen Platten. Heute singt er nur noch Balladen. Diese sind zerdehnt, aber nicht überspannt. In ihrer fragilen Balance sind sie wahrscheinlich so radikal wie Caves frühe Kunst, sind Resultat eines narbenreichen Optimismus: Das Leben ist schön, trotz allem. (Karl Fluch, 4.10.2019)

Nick Cave balladiert auf seinem neuen Album Ghosteen so offen wie noch nie zuvor.
Foto: Matt THorne