Tollkühne Hexen auf heißen Stühlen: Holzinger in Aktion.

Foto: Eva Würdinger

Die hohe Kunst des Splatterns wird traditionell zutiefst unterschätzt. Man rechnet sie gewöhnlich dem Genre des Gruselfilms Klasse B zu und verdrängt oft, dass diese saftige Form der Farce ein Teil der populären Theatergeschichte ist. Dabei geht es natürlich nicht um Schüttszenen, wie sie nicht selten im hochkulturellen Regietheater vorkommen, oder um politisch-kritische Bühnenblutungen à la Johann Kresnik. Sondern um den wüsten Grand Guignol, die große Kasperliade rund um die Lust am Entsetzen, wie sie ab Ende des 19. Jahrhunderts in Paris zelebriert wurde.

Es ist der Wiener Choreografin Florentina Holzinger vorbehalten, Grand Guignol als zeitgenössische Kunst wiederzubeleben und ihn aus dem Wiener Blut in den Tanz zu levitieren. Tanz heißt auch Holzingers neues Stück, das am Donnerstag im Tanzquartier Wien eine explizit hexenkesselhafte Geburt erfuhr.

Holzingers bisheriges Masterpiece

Grundlagen dafür sind erstens das 1832 in der Stadt der Liebe uraufgeführte und später von August Bournonville verfeinerte romantische Ballett La Sylphide, dessen zweiaktige Struktur Holzinger beibehält. Und zweitens Dario Argentos Edelsplatter Suspiria von 1977, bei dem es um eine Tanzakademie geht, in der ein Hexenzirkel sein Unwesen treibt.

Wer diese Referenzen nicht wirklich intus hat, erlebt davon unbeschadet einen choreografischen, actionhaft akrobatischen Grand Guignol mit unglaublich vielen Details samt brutalem Schmäh, hintergründig aufgelegten Plattitüden sowie überraschenden Brüchen und Wendungen. So ist es passiert: Tanz wird Florentina Holzinger künftig als ihr bisheriges Masterpiece im Nacken sitzen – auch weil sich ihre Tänzer- und Performerinnentruppe, tatsächlich ausschließlich Frauen, hervorragend eingearbeitet hat.

Hier bildet sich beinahe schon eine richtige Company aus Tänzerinnen und Artistinnen vom Feinsten, deren Star diesmal eindeutig die 78-jährige deutsche Ballerina Beatrice Cordua ist. Cordua brillierte einst bei so unterschiedlichen Koryphäen wie John Neumeier und Johann Kresnik. Bei Tanz gibt sie die freundliche Ballettlehrerin als eine Art Übermutter ihrer Hexenbande. Diese Gang versteht sich ebenso aufs Besenreiten wie aufs Fliegen von Motorrädern.

Anarchisch und feministisch

Die Mutter frönt auch der Fleischeslust. Sie zitiert Nellys Song Hot In Here an und inspiziert ihre sündigen Elevinnen entsprechend ohne falsche Scham. Die schlimme Hexe Madge aus La Sylphide wird von anderen dargestellt, komplett samt dampfendem Hexenkessel. Und die in den Lüften schwebende Sylphide verwandelt sich in einen weiblichen Stelarc.

Erstaunlich, wie trittsicher Holzinger und ihre Gruppe das anarchische Element in die zeitgenössische choreografische Performance zurückholen. Faszinierend, wie selbstverständlich ironisch hier der Feminismus als Diskurs über den Witz einer schelmisch ins Referenzfeld abgestellten Männlichkeit wirbelt. Und herrlich, wie viele Motive aus Kunst und Gesellschaft darüber hinaus noch in Tanz aufplatzen. Die Standing Ovations nach der Uraufführung sind definitiv nachvollziehbar. (Helmut Ploebst, 4.10.2019)