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Anno 2010 von US-Präsident Barack Obama für humanitäre Verdienste mit einer Medaille ausgezeichnet: Der mittlerweile in New York ansässige Philosoph Kwame Anthony Appiah.

Foto: Pablo Martinez Monsivais/AP/dapd

Wer sind wir? Oder sollte die Frage besser lauten: Was sind wir? Gewohnheitsmäßig bedienen wir uns kollektiver Zuschreibungen, um das Wesen von uns Menschen zu erfassen. Im Folgenden eine Reihe von Alternativbegriffen, die den Stand der Debatte wiedergeben.

Multiversum: Nicht ohne Stolz berichtet der Anglo-Ghanaer Kwame Anthony Appiah über seine Erlebnisse als Taxifahrgast. Als prominenter Philosoph bereist er regelmäßig die Metropolen der Welt, das Thema der "missverständlichen Identität" im Lehrgepäck. Appiah, Autor des Buchs Identitäten (Hanser Berlin), berichtet von den Bemühungen vieler Taxichauffeure, ihn aufgrund seiner äußeren Erscheinung als Person zu identifizieren.

In São Paulo sei er als Brasilianer angesprochen worden. In Kapstadt wurde er für einen Farbigen gehalten, in Rom für einen Äthiopier. In London sorgte er für Kopfschütteln, als er seine Unfähigkeit einbekannte, sich auf Hindi zu unterhalten. Appiah (65) räumt ein, dass die wiederkehrende Frage nach seinem Geburtsort (London) mehr meint als den Standort des Kreißsaals, in dem er zufällig das Licht der Welt erblickt hat. Die gewünschte Auskunft betrifft die Fiktion eines "Ursprungs". Appiah ist ein Prominentenkind: Mütterlicherseits stammt er aus einem Geschlecht mit normannischen Urahnen. Die Vaterlinie verweist auf das Königshaus in Ghana.

Fiktionen: Der Prozess der Identitätsbildung greift auf eine Vielzahl von Annahmen zurück. Sie mögen falsch sein, im Einzelnen sogar irreführend oder diskriminierend. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie in den Augen aller Bedeutsamkeit erzeugen (sollen). Appiah meint die Notwendigkeit sozialer Orientierung. Diese ist unabdingbar.

Hilfen: Man kategorisiert sich selbst, um eine hypothetische Vorstellung von der eigenen Stellung in der Welt zu erhalten. Kategorien verweisen ihrerseits auf religiös-sittliche Traditionen. Das Individuum ist niemals "frei". Es findet Normen vor, die es, schon um von seinen Mitmenschen anerkannt zu werden, beachten muss. Der Lohn ist häufig niederschmetternd. Die Festlegung auf eine Identität schafft Verdruss, weil sie dazu angetan ist, Einzelpersonen um die Geltungsansprüche ihres Andersseins zu prellen. Auch die Empfindlichkeit von Gruppenidentitäten fällt häufig unter den Tisch.

Nationalgeister: Die geschichtlich junge Entwicklung der "Nationalstaaten" hat uns nicht nur in Europa mit einer Reihe von Grundannahmen versorgt, die näherer Betrachtung kaum standhalten. Die Menschen leben nicht in Nationalstaaten mit einheitlicher Kultur, Religion und Sprache und haben dies empirisch auch nie getan. Es blieb Philosophen wie Johann Gottfried Herder vorbehalten, das Wirksamwerden eines "Geistes" zu behaupten, der sich in Sprache und Literatur verkörpert. Die Kons truktion nationaler Identitäten beruht auf höchst instabilen Definitionen dessen, was (ein) "Volk" ist.

Kwame Appiah macht deutlich, dass bei jeder Ausgestaltung einer Nationalidentität vorab Wahlentscheidungen getroffen werden. Als Beispiel dient Singapur: Die föderative Gestalt des Stadtstaates erzwingt eine wechselseitige Durchdringung der Volksgruppen und von deren Sprachen. Das CMIO-System schuf die Voraussetzung für die Zuordnung aller Bürger zu einer der vier Bevölkerungsgruppen: Chinesen, Malaien, Inder, Sonstige. Allein die Komplexität der Sprachregelungen ist enorm: Alle lernen in der Schule Englisch, Chinesen und Inder außerdem Mandarin bzw. Tamil, die Malaien Malaiisch.

Essenz: Das furchtbare Erbe des Rassismus west fort, als Hohlform, die vielfach neu mit Unrat gefüllt wird. Das Fortwirken biologistischer Vorstellungen ist häufig als "Essenzialismus" zu beobachten. Wir alle operieren mit Verallgemeinerungen, deren Vorhandensein sich streng genommen nicht nachweisen lässt. Die Bestimmung gemeinsamer Wesensmerkmale ist Teil unaufhörlicher Praxis: Wir handeln miteinander aus, wie wir eingeschätzt werden wollen.

Universalismus: Der Slowene Slavoj Žižek hat zuletzt die Frage nach der Universalität unserer Anschauungsformen neu beantwortet. Wir müssen von der weißen, männlichen, "Hetero"-Position aus sprechen, wenn wir uns über die Besonderheit von Gruppenidentitäten unterhalten. Auch wenn wir die Position der Unterprivilegierten als ungerecht wahrnehmen: Das Privileg der (falschen) Universalität bleibt uns bewusst: einfach weil es keine neutrale gibt. Doch wir können den Anspruch auf Universalität trotzdem nicht preisgeben. Nur die Annahme "wahrer" Universalität deckt die Vorläufigkeit unserer weißen, männlichen auf. (Ronald Pohl, 5.10.2019)