Das Beben im Bordelais fand am 5. Mai 2014 statt, doch die Erschütterung ist bis heute spürbar – sie wird sogar immer stärker. Sylvie Nony zeigt auf das Epizentrum und sagt: "Hier, am Rande des Pausenplatzes, begann alles." Wir sind in Villeneuve-de-Blaye, einem kleinen Weindorf nördlich von Bordeaux, und die ehemalige Physik- und Chemielehrerin Nony erzählt: In jenen Maitagen sei es schon relativ heiß gewesen, die Schüler hätten ihren Gesangsunterricht auf den Pausenplatz verlegt. Von jenseits des Zauns, wo die ersten Reben sprossen, war der Lärm von Traktoren zu hören. Auf einmal begannen die 23 Schüler über Kopf- und Bauchschmerzen zu klagen. Einige bekamen Schwindelgefühle, rote Augen, Hautausschläge.

Die Feuerwehr wurde gerufen, die Bürgermeisterin alarmiert. "Alle wussten, was los war: Der Wind hatte Pestizidwolken von den unmittelbar benachbarten Weinbergen herübergetragen", sagt Nony, noch heute erbost. "Doch die Bürgermeisterin, der die Weinberge hier gehören, rief die Gendarmen nicht, wie es eigentlich Pflicht wäre. Deshalb gab es nie einen Polizeibericht."

Heute sind die Rebstöcke, die unmittelbar an das Schulareal angrenzten, verschwunden. Dafür taucht jetzt eine andere Frau auf. Noch aus der Ferne ruft sie, das Betreten des Geländes sei Unbefugten verboten. Es ist die Bürgermeisterin persönlich, Catherine Vergès, Inhaberin des größten Châteaus im Ort.

"Nichts ist erwiesen"

Ein hitziger Dialog entspinnt sich zwischen den beiden Frauen. Lehrerin Nony, die eine Webseite gegen den Pestizideinsatz hier in der Oberen Gironde unterhält, fragt, ob die Gemeinde die Reben ausgerissen habe, um ein Beweismittel zu zerstören. "Nichts ist erwiesen", antwortet Vergès. "An jenem Tag sprühte auch ein Biobauer in der Nähe." "Aber keine Pestizide", fällt ihr Nony ins Wort: "Die Pestizide kamen von hier. Von Ihren Reben."

Die ehemalige Lehrerin Sylvie Novy vor jener Schule in der Weinregion, an der 23 Schüler über Schmerzen klagten.
Brändle

Man merkt es am giftigen Ton: Die "Affäre Villeneuve", die vor einem Gericht in Bordeaux anhängig ist, spaltet das Bordeaux-Gebiet zutiefst und mehr denn je. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft des ganzen Weingebiets.

Die Weinbranche setzt im Bordelais seit Jahrzehnten massiv Herbizide, Fungizide und Insektizide gegen Unkraut, Pilze und Schädlinge ein. Das atlantiknahe Rebengebiet, von den Engländern geschaffen, ist eigentlich ein schlechter Ort zum Weinmachen: Es ist feucht, und der Mehltau, der Erzfeind der Winzer, kann ganze Ernten vernichten. "Wenn wir nicht sprühen, können wir unsere Arbeiter gleich nach Hause schicken", sagt Vergès, die den Namen ihres Châteaus nicht genannt haben will.

"Saubere" Weine immer beliebter

Nony entgegnet, die Exporte der herkömmlichen Bordeaux-Produktion stagnierten, weil Konsumenten in Ländern wie Österreich "saubere" Weine wollten. Die Nachfragen nach den Bioweinen aus dem Bordelais nähmen stetig zu. Weingüter wie Château d'Yquem oder Latour seien schon umgestiegen.

"Ach wo, ihr Umweltschützer bringt nur die Leute gegeneinander auf", wirft die resolute Bürgermeisterin der pensionierten Lehrerin vor. "Und jetzt verlassen Sie meinen Grund und Boden!" Nony leistet der Aufforderung Folge, behält aber das letzte Wort: "Madame, Sie stehen auf verlorenem Posten. In wenigen Jahren werden die Pestizide ganz verboten sein."

Auf der Rückfahrt nach Bordeaux geht es vorbei an vollen Reben und reifen Trauben, durch kleine Dörfer, die wenig gemein haben mit den weltberühmten Médoc-Weinbergen auf der anderen Seite der Flussmündung. "Hier sind viele kleine Winzer überschuldet. Sie würden gerne auf pestizidlose Produktion umstellen, doch das bedeutet drei Jahre Verlust. Das können sich die wenigsten leisten."

Von den knapp 10.000 Weingütern im Bordelais sind erst 610 auf Bio umgestiegen. Die bekannteste Weinregion der Welt verwendet mehr Pestizide als andere, auch französische wie das Elsass oder Côtes du Rhône. 20 Prozent aller in Frankreich versprühten Schädlingsmittel kommen bei Bordeaux zum Einsatz – obwohl das Weingebiet nur drei Prozent der französischen Agrarfläche stellt.

Kaum mehr Insekten im Bordelais

"Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass keine einzige Mücke gegen die Windschutzscheibe geprallt ist, seitdem wir losgefahren sind?", fragt Nony am Steuer ihres alten Citroën. "Hier im Bordelais gibt es kaum mehr Insekten. Auch die Bienen und Fledermäuse verschwinden mehr und mehr. Alles wegen der Pestizide."

Aber die Folgen des Villeneuve-Bebens wirken weiter. Die Winzerzunft gelobt Besserung, der Branchenverband CIVB verspricht eine "starke Verminderung der Pestizide, wenn nicht den kompletten Ausstieg". Das klingt nicht sehr verbindlich, und auch nicht sehr freiwillig: Der Verband reagiert, weil die Konsumenten bei Weindegustationen neuerdings unangenehme Fragen stellen. In den Buchhandlungen von Bordeaux liegt gerade eine Studie des hierzulande heftig umstrittenen Molekularbiologen Gilles-Éric Séralini auf. Nach ausführlichen Proben behauptet er, dass es einen "Geruch der Pestizide im Wein" gebe.

Ist diese Chemie beim Trinken auch gesundheitsschädigend? Weniger als Alkohol, antwortet der CIVB ausweichend. Die zuständige EU hat nie Grenzwerte für den Pestizidgehalt im Wein festgelegt. Auf den Etiketten finden sich deshalb keinerlei Angaben. Das von Konsumentenverbänden beauftragte Labor Dubernet bezeichnet die Rückstände im Wein als sehr schwach: Sie betragen weniger als zwei Prozent der in Früchten erlaubten Konzentration.

Protest gegen Schule neben Weinberg

Wenn da nur nicht die Villeneuve-Affäre wäre. Entlang der – bis zu acht Mal im Jahr besprühten – Weinberge haben die Anwohner heute Angst. Auf der idyllischen Reise durch den Médoc wird auch in Parempuyre haltgemacht, einem Winzerdorf, das in diesem Jahr nationale Schlagzeilen gemacht hat. Eltern protestierten gegen den Bau einer Mittelschule gleich neben einem Weinberg, darauf stellte das Château Clément-Pichon auf Bio um.

Bürgermeisterin Béatrice de François ließ es nicht dabei bewenden. Sie legte einen Hundert-Meter-Korridor zwischen Reben und Wohnbauten fest. Die Präfektur des Departements Gironde, der eine gewisse Nähe zu den Weinhändlern nachgesagt wird, will aber dagegen vorgehen.

So wogt der Kampf um die Pestizide bis in die Nordspitze des Médoc. An der Endstation des Lokalzugs wartet eine mutige Frau, die sich nur mühsam aufrecht hält, im Regen. Sylvie Berger war eine "kleine Hand", die "in den Reben arbeitete", wie man hier sagt. An einem Freitagmorgen – das war vor sieben Jahren – brach ihre Welt zusammen, als sie durch die massive Dosis einer Pestizidwolke vergiftet wurde.

Schwindel und Brechreiz

Zuerst litt sie unter Schwindel, Brechreiz und Hautreizungen. Auch die Folge erinnert an die Villeneuve-Affäre: Die Vorgesetzten wollten keinen Mediziner, keine Amtsperson rufen. "Am Montag danach wurde ich zur Arbeit gerufen, als wäre nichts geschehen", erzählt Berger, heute 48. "Und als ich zum Lokalarzt ging, wollte er das Wort Pestizid nicht hören." Erst vier Jahre später, als sie im Universitätsspital von Bordeaux einen Neurologen aufsuchte, bekam sie ein anderes Wort zu hören: Parkinson.

Weinarbeiterin Sylvie Berger erkrankte an Parkinson und hat nun vor Gericht Recht bekommen.
Brändle

Nach dem Schock reagierte Berger mit einer Gerichtsklage. Endlich – und vielleicht unter dem Eindruck der Villeneuve-Affäre – hörte man auf sie. "Wir hatten jahrelang ohne jeden Schutz gearbeitet und trugen nicht einmal Handschuhe. Mein ehemaliger Arbeitgeber behauptete das Gegenteil, doch als ihn die Richter um einen Beweis ersuchten, konnte er nur Handschuhe der Größe zehn vorlegen – während ich sechseinhalb bräuchte."

Château verurteilt

Im August wurde das Château Vernous wegen "unentschuldbaren Fehlverhaltens" bei der Pestizidverwendung verurteilt – das Strafmaß steht noch aus. Berger, zu 25 Prozent invalid, lebt derzeit von 216 Euro im Monat, da ihr Mann entlassen wurde, und hofft auf Schadenersatz. Damit will sie eine Parterre-Wohnung kaufen, um gewappnet zu sein, wenn ihre Krankheit stärker wird.

Schon jetzt ist Sylvie Berger oft erschöpft, im Griff von Parkinson. Aber sie ist stolz auf ihren Sieg: "Erstmals hat ein Gericht die neurologische Schädigung durch Pestizide im Bordelais vorbehaltlos anerkannt. Das hilft den anderen 'kleinen Händen', die für 1200 Euro im Monat in den Weinbergen arbeiten und nicht einmal für ihre Überstunden bezahlt werden." Inzwischen haben sie Handschuhe erhalten. (Stefan Brändle aus Villeneuve-de-Blaye, 5.10.2019)