Leo Varadkar ist gelernter Hausarzt – und kein großer Diplomat.

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Leo Varadkar wendet eine Maxime seines Berufes als Hausarzt auch in der Politik an: Gelegentlich ist zur Heilung eines Gebrechens bittere Medizin nötig. Dementsprechend hat der irische Premier dem britischen Brexit-Patienten immer wieder unangenehme Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben.

Nur auf der Grünen Insel hat das Vereinigte Königreich eine Landgrenze mit dem EU-Binnenmarkt. Und die rund 300 Kilometer lange Zickzacklinie hat eine hochemotionale Bedeutung. Ihre Durchlässigkeit war ein entscheidendes Element des Karfreitagsabkommens von 1998, das den Frieden in der einstigen Bürgerkriegsprovinz Nordirland sicherstellte. Nichts dürfe die offene Grenze gefährden, so haben es einander London, Dublin und Brüssel in die Hand versprochen. Abweichungen der britischen Regierung führen stets zu Tadel durch Varadkar.

Kein Wunder, dass die Republik im Süden diesen Status quo zäh verteidigt – und Varadkar (40) führt den Kurs mit Härte an. Zum Diplomaten taugt der mit einem Arztkollegen zusammen lebende Taoiseach (gälisch für Häuptling) also kaum. Als Sohn einer irischen Krankenschwester und eines indischen Arztes gehört der hochgewachsene, elegante Mann nicht zur eng verwobenen gesellschaftlichen Elite in Dublin. "Dem ist es manchmal egal, ob er spaltet", hat der Dubliner Ökonom Edgar Morgenroth beobachtet.

Lektion an Boris Johnson

Den ersten Besuch seines britischen Kollegen in Dublin im vergangenen Monat nutzte Varadkar zu einer kleinen Lektion. Wenn Boris Johnson wirklich sein Land in den No-Deal-Brexit führe, seien schon tags darauf neue Verhandlungen nötig. "Und in denen geht es um genau die gleichen Punkte wie zuvor." Die irische Grenze ist einer, der wohl wichtigste, dieser Punkte.

Erstmals in den 800 Jahren englisch-irischer Geschichte hat das kleinere Land größeres Gewicht als das einstige Empire – jedenfalls solange die europäische Solidarität trägt. Im Vertrauen darauf verwarf der Ire vergangene Woche die neuen Brexit-Ideen aus London: "Keine britische Regierung sollte Irland etwas aufzwingen, was die Menschen in allen Teilen Irlands nicht wollen."

Vom Chaos-Brexit wäre kein Land stärker betroffen als die Grüne Insel. In dem Fall würde Varadkar die Briten wohl als Sündenbock benutzen. Ob die Bürger ihm dies glauben, können sie im Mai unter Beweis stellen. Dann will sich der seit Juni 2017 amtierende Premier einer vorgezogenen Neuwahl stellen. (Sebastian Borger aus London, 6.10.2019)