Denkt über den letzten Menschen nach: Philipp Weiss.

Helmut Lackinger

Philipp Weiss sieht nicht aus, als würde er gern Papier verspeisen. Und doch hat der Wiener Schriftsteller das einmal getan. Beim Bachmannpreis 2009 verdrückte er im Anschluss an die Lesung die Manuskriptseite seines Wettbewerbstextes; dieser trug den prophetischen Titel Blätterliebe. Wer damals unkte, der Papierappetit sei banales Marketing-Kalkül gewesen, lag falsch. Solche Strategien zur Aufmerksamkeitsmehrung liegen Philipp Weiss fern, der heute 37-Jährige wollte als Autor gar einmal anonym bleiben. Viel wichtiger aber zum Verständnis des Papierverzehrs ist: Weiss sieht seine Literatur zwingend an eine performative Ebene geknüpft; der Autor ist mit seinem Text bei einer Lesung (wie schon beim Schreiben) sehr verwachsen.

Verwachsen ist ein wichtiges Stichwort. Philipp Weiss gehört zu jener Generation Literaten, die im Zeitalter der Globalisierung den Auftrag erkennen, die Welt und ihre fluiden Verhältnisse neu zu fassen. Inspiriert von der US-amerikanischen Theoretikerin Donna Haraway, die in ihren maßgeblichen Werken Cyborg Manifesto und Staying with the Trouble für eine Transformation unserer alten, in Disziplinen und nach Arten getrennten Begriffs- und Arbeitskonzepte eintritt, ist Weiss' Denken und Schreiben entschieden zukunftszugewandt.

Politische Aufgabe der Literatur

Weiss sagt, das Problem unserer globalisierten Gegenwart ist, "dass wir Dinge, die wir uns nicht vorstellen und erzählen können, auch nicht verantworten und verändern können".

Wir stehen also "ohnmächtig wie Analphabeten des Komplexen vor dieser Wirklichkeit." Es sei, sagt Weiss, eine "politische Aufgabe der Literatur, dieser Sprachlosigkeit entgegenzuwirken". Wer also fragt, wo ist die Literatur, die uns in die Zukunft trägt, wo sind die Theaterstücke, die das künftige Menschsein antizipieren, das den Klimawandel und seine Folgen bereits eingerechnet hat, der wird bei Philipp Weiss fündig.

Seine Literatur ist eben kein moralinsaurer Abgesang auf das, was heute schiefläuft, sondern sie zeigt in Science-Fictionhafter Manier in eine kommende Welt.

Dabei geht es bei Weiss zwischen Prosa und Drama immer hin und her. Vermutlich ist Weiss eher Romancier, einer, der sich – wie schon für sein Opus magnum, den fünfbändigen Roman Am Weltenrandsitzen die Menschen und lachen – am liebsten jahrelang zum Schreiben in einen "komatösen Zustand" zurückzieht, wie er sagt. Aber auch das Theater hat ihn angefixt. Bereits 2008 erschien im Passagen-Verlag sein Bühnentext Egon (über Egon Schiele), 2010 entstand Seifenblasenoper im Rahmen der Burgtheater-Werkstatttage. Mit Allerweltgewann er gleich darauf das Hans-Gratzer-Stipendium des Wiener Schauspielhauses, wo er eine Spielzeit lang Hausautor wurde.

Offene Tore bei Suhrkamp

Mit Am Weltenrand aber erst gingen die Tore bei Suhrkamp auf. Wer mit einem solchen Tausendseiter in den Literaturbetrieb hineingrätscht, wird absehbar so schnell nicht wieder verschwinden. Der Roman war im Vorjahr ein literarisches Ereignis. Er löst mit einer Vielzahl an Perspektiven, literarischen Gattungen und grafischen Ausdrucksweisen, von der enzyklopädischen Prosa bis zum Manga-Comic, jene Pluralität ein, die unsere Gegenwart antreibt.

Weiss' neues Theaterstück schließt direkt daran an. Es ist im Auftrag des Wiener Hamakom-Theaters entstand und hat ebenda heute (8. 10.) Uraufführung. Mit Thomas Köck, Sibylle Berg oder Miroslava Svolikova gehört Philipp Weiss damit zu jenen (noch) wenigen Autoren, die sich an den in der Theaterliteratur weitgehend fehlenden Utopien/Dystopien abarbeiten.

Sein Stück heißt Der letzte Mensch und skizziert anhand einer Figur drei mögliche Szenarien des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts: In der ersten Variante steht die Hauptfigur Liv im Jahr 2107 im Nordpolarmeer vor dem Kollaps. In Variante zwei erscheint sie zum Androiden upgegradet im Weltall. Und in Nummer drei wandelt sie sich einer Utopie zufolge, der die Gründung eines Weltparlaments zugrunde liegt, in der Tiefsee zu einem "Symbionten", einem Mischwesen aus Mensch, Tier und Maschine. Hier kommt er Haraway am nächsten.

Die literarische Initialzündung erlebte Philipp Weiss beim Reisen. Der Fremde ausgesetzt – es begann mit Guatemala -, hat der damals 18-Jährige Sprache als Medium der Bewältigung entdeckt. Zunächst seien nur schlechte Gedichte entstanden, sagt der Autor. Heute, zwanzig Jahre später, schafft Weiss eine elaborierte, unprätentiöse Literatur, die es gezielt mit der Komplexität unserer Welt aufnimmt. Dementsprechend befasst sich sein nächstes Romanprojekt mit der Globalität und der Frage: Lässt sich die globalisierte Welt in ein Bild setzen? Das Buch könnte also wieder umfangreicher ausfallen.

Im Feld der zeitgenössischen Dramatik lässt dieser weltumspannende Zukunftsblick Philipp Weiss ziemlich singulär erscheinen – zumindest in dieser Radikalität. Seine Denkansätze nehmen grundsätzlich immer Bezug zum ganzen Planeten – so funktioniert das Problembewusstsein einer jüngeren Generation eben, die (zwangsläufig) dazu bereit ist, alles scheinbar Gesicherte infrage zu stellen. Etwa Folgendes: "Wir teilen 98 % der DNA mit einem Schimpansen und 35 % mit einer Narzisse. Dass sich der Mensch über alle anderen Lebewesen erhoben hat, ist ein Fehler."

Frauen tragen die Welt

Gedanken von solcher Tragweite bringt der Autor in vollkommener Ruhe vor, er hat sie vielfach überprüft und weitergedacht. Philipp Weiss zehrt nicht (wie so viele) vom eigenen Erlebten, sondern erzählt von Weltzusammenhängen. "Meine Arbeit beginnt an der Grenze zu dem, was ich kenne und verstehe. Ich versuche, mich selbst beim Schreiben zu verwandeln", sagt er.

Und darin liegt auch die Antwort darauf, warum es meist Frauenfiguren sind, die seine Welten tragen. Es ist nicht nur der Prozess der Anverwandlung, die sie für ihn interessant machen. Ihre gesellschaftliche Rolle ist spannender, sagt Weiss, "weil jede Frau in sich eine Geschichte der Unterdrückung und der potenziellen Selbstermächtigung trägt. Dieses Spannungsverhältnis ist immer präsent."

Auch damit sollte Philipp Weiss am Theater offene Türen einrennen. (Margarete Affenzeller, 8.10.2019)