• AUSGANGSLAGE

In Sachen Flüchtlings- und Migrationskrise konzentriert sich die europäische Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit auf die Bewegungen über die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien. Dort, wo am Montag bei einem Bootsunglück vor Lampedusa erneut Tote zu beklagen waren. Deshalb ist heute, Dienstag, beim EU-Innenministerrat auch die Seenotrettung Thema, genauer gesagt die vor zwei Wochen erzielte Einigung von Italien, Frankreich, Deutschland und Malta auf ein Notfallsystem.

Bekannt ist bisher, dass ausschließlich im zentralen Mittelmeer Gerettete – rund 20 Prozent der in Italien Angekommenen – verteilt werden sollen. Weitere Details sollen heute verraten werden. Ziel der Unterredung in Luxemburg ist, so viele Länder wie möglich von einer Beteiligung zu überzeugen. Kroatien, Finnland, Irland, Litauen, Luxemburg und Portugal haben bereits eine Zusage angedeutet. Österreich stand einer Flüchtlingsverteilung in den letzten Jahren kritisch gegenüber.

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Ein Boot voller Flüchtlinge und Migranten rund 100 Kilometer vor der libyschen Küste. Sie warten auf Rettung.
Foto: AP / Olmo Calvo

Die neue Regierung in Rom hat die Hafensperre für private Rettungsschiffe aufgehoben. Nun soll ein temporär begrenzter Verteilungsautomatismus geschaffen werden, um nicht bei jedem angekommenen Schiff mit Geretteten an Bord aufs Neue klären zu müssen, wohin die Menschen gebracht werden. Im Gespräch ist eine Dauer von sechs Monaten, damit die neue EU-Kommission von Ursula von der Leyen, die am 1. November ihre Arbeit aufnimmt, mit diesem Spielraum starten kann.

Die Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker hatte bereits im Sommer davon gesprochen, dass eine "neue Lösung für die Einwanderungsproblematik" notwendig sei und dafür das Dublin-Abkommen reformiert gehöre. Dieser Regel zufolge ist jenes Land für ein Asylverfahren zuständig, in dem die Person zum ersten Mal EU-Boden betritt. Das führt dazu, dass vor allem Mittelmeeranrainerstaaten überdurchschnittlich belastet werden.

Warten auf von der Leyens großen Wurf

Über eine Dublin-Reform wird schon lange diskutiert, doch scheiterte sie bislang am Widerstand von Ländern wie Ungarn oder Polen, die eine Aufnahme von Flüchtlingen strikt ablehnen. Mit Spannung darf also erwartet werden, wie von der Leyen diese Länder von ihrem angekündigten EU-Migrations- und -Asylpakt überzeugen will.

Dass das Dublin-Abkommen nur bedingt funktioniert, zeigt eine Studie des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) über das erste Halbjahr 2019. Demnach wird von den angefragten Dublin-Überstellungen nur ein Bruchteil tatsächlich umgesetzt. Deutschland etwa hatte in dem Zeitraum 25.483 Anträge an andere EU-Länder gestellt – transferiert wurden schließlich nur 4.215 Personen. Von Österreich aus gab es 759 Dublin-Überstellungen – bei 1.872 Anträgen.

  • HERAUSFORDERUNGEN

Die im Raum stehende Flüchtlingsverteilung allein wird im Fall einer Umsetzung weder die Krise im Mittelmeer lösen noch die schlechten Bedingungen in den libyschen Auffanglagern oder jene auf den griechischen Ägäis-Inseln verbessern. Doch ist sie ein elementarer Bestandteil für eine mögliche große Lösung.

Diese beginnt bei der Kontrolle der EU-Außengrenzen. Die müssen, da sind sich Parteien unterschiedlichster Couleur sowie zahlreiche Experten einig, streng geschützt werden, um irreguläre und ungeplante Flucht- und Migrationsbewegungen und damit auch das Schleppergeschäft zu unterbinden. Das allein, wie manche Akteure nach dem Motto "Festung Europa" suggerieren, wird aber nicht reichen. Irgendwann würde der Migrationsdruck auf die Außengrenzen zu groß werden.

Ein Schiff der EU-Grenzschutzbehörde Frontex zieht ein von Flüchtlingen und Migranten genutztes Schlauchboot in Richtung Lesbos. Auf den griechischen Ägäis-Inseln sind die Ankünfte zuletzt wieder angestiegen.
Foto: AFP/ANGELOS TZORTZINIS

Um also einen effektiven Außengrenzschutz zu gewährleisten, müssen auch extraterritoriale Maßnahmen gesetzt werden. Zum einen wäre da die Kooperation mit den umliegenden Staaten, vor allem bei maritimen Außengrenzen. Auf der östlichen Mittelmeerroute gilt nach wie vor der mehr oder weniger funktionierende EU-Türkei-Deal, der die Flucht- und Migrationsbewegungen seit Frühling 2016 gravierend eingedämmt hat. Schwieriger ist es auf der zentralen Mittelmeerroute aufgrund des andauernden politischen Chaos in Libyen, von wo die meisten Flüchtlinge und Migranten ablegen. Eine Lösung ist hier so lange nicht in Sicht, als es keinen eindeutigen Ansprechpartner in Tripolis gibt.

Nur wenige Rückführungsabkommen

Deshalb ist die Kooperation mit den Herkunftsstaaten umso wichtiger. Hier geht es vor allem um zwei Punkte: die Bekämpfung von Fluchtursachen, die viel Zeit in Anspruch nehmen wird, und die Rücknahme jener, die es nach Europa geschafft haben, aber keinen Anspruch auf Asyl haben.

Letzteres ist in vielen Fällen aber kaum möglich, weil nur wenige Rückführungsabkommen mit den Herkunftsstaaten abgeschlossen wurden. Warum das so ist? Die in Europa lebenden Migranten haben laut Weltbank 2018 knapp 42 Milliarden Euro an ihre Verwandten in subsaharische Länder überwiesen – ein Vielfaches der geflossenen Entwicklungshilfe. Es gibt also ein großes ökonomisches Interesse, dass es viele von ihnen nach Europa schaffen. Als etwa die EU im Dezember 2016 ein Rückführungsabkommen mit Mali abschloss, kam es zu großen Protesten gegen die Regierung.

Um die Herkunftsstaaten zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, benötigt es Anreize. Genannt werden von Experten große Finanzspritzen sowie legale Einreisemöglichkeiten nach Europa, um die jeweiligen Bevölkerungen zufriedenzustellen. Das führt zurück zu der Frage, welche EU-Länder diese Menschen aufnehmen sollen.

  • LÖSUNGSANSÄTZE

Dass legale Einreisemöglichkeiten in die EU dazu beitragen könnten, irreguläre Flucht- und Migrationsbewegungen einzudämmen, die Zusammenarbeit mit Herkunftsstaaten zu verbessern und dadurch Rückführungsabkommen abzuschließen, ist beileibe kein neuer Lösungsansatz. Bereits am 16. Dezember 2005 formulierten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder diesen Maßnahmenmix als Gesamtansatz zur Migrationsfrage. Es könne "durch Maximierung der Vorteile der legalen Migration für alle Partner" besser gesteuert werden. Knapp 14 Jahre später hakt es weiterhin bei der Frage, wie legal Eingereiste in der EU aufgeteilt werden könnten – eben genauso wie aus dem Mittelmeer Gerettete.

Geldstrafen oder Belohnungen?

Als Argument pro Verteilung wird gern mantraartig von europäischer Solidarität gesprochen, damit kam man bisher aber schon nicht weit. Regelmäßig vorgeschlagen – jüngst auch von Italiens Regierungschef Giuseppe Conte – wurden Geldstrafen für jene EU-Länder, die sich einer Beteiligung widersetzen. Viktor Orbán und Co haben sich davon bisher aber nicht beeindrucken lassen. Außerdem würde das wohl zu einer weiteren Spaltung der Union führen. Umgekehrt wurde auch schon in die Runde geworfen, jene zu belohnen, die Flüchtlinge aufnehmen. Das klingt im ersten Moment vielversprechender, hat es aber noch nicht aus dem Ideenstadium heraus geschafft.

In die gleiche Richtung, aber genauso weit entfernt von einer Umsetzung, geht ein Vorschlag des deutschen Migrationsforschers Steffen Angenendt: "Wieso veranstaltet die EU-Kommission nicht einen Wettbewerb für Gemeinden? Die, die Flüchtlinge aufnehmen, werden finanziell belohnt. Damit schaffen wir einen Anreiz für Kommunen, die zum Beispiel Einwohner brauchen." Bürgermeister wären dafür verantwortlich. Wollen sie wiedergewählt werden, müssen sie dafür sorgen, dass das Projekt gelingt. "Man schafft ein direktes Eigeninteresse", sagt Angenendt.

Ursula von der Leyen plant einen EU-Migrations- und -Asylpakt. Wie dieser aussehen wird, wird man ab 1. November sehen.
Foto: AFP/KENZO TRIBOUILLARD

Demetrios Papademetriou, Präsident des Migration Policy Institute, schlägt eine andere Verteilung vor. "Manche Länder haben etwas gegen Muslime. Es gibt aber auch genügend Christen, die flüchten. Dann sollen sie halt die aufnehmen, das ist besser als nichts." Doch auch dieser Vorschlag wurde, soweit bekannt, in Brüssel noch nicht wirklich ernsthaft in Betracht gezogen. Und so heißt es Warten auf Ursula von der Leyen und darauf, wie sie Dublin reformieren und was sie stattdessen in der EU-Asyl- und -Migrationspolitik durchsetzen will.

Und wer weiß, vielleicht hatte ja Iwan Krastew recht, der bekannte bulgarische Politologe, als er Mitte 2016 dem Magazin Politico sagte: "Es gibt Krisen, die können nicht gelöst, nur überlebt werden – die Flüchtlingskrise ist eine davon." (Kim Son Hoang, 8.10.2019)