Quer durch Europa widmen sich Parteiakademien und Vordenker von Christdemokraten und Sozialdemokraten speziell einem Thema, das für viele Mitglieder ihrer Parteifamilien von Wahl zu Wahl zur Existenzfrage wird: Haben die großen Volksparteien noch eine Zukunft?

Jahrzehntelang hatten sie auf Basis fester ideologischer Ausrichtungen nicht nur Politik und Gesellschaft in ihren Nationalstaaten geprägt, meist auf starke Wahlergebnisse von 30, gar 40 Prozent Wähleranteil und mehr gestützt. Die Machtverhältnisse waren relativ einfach. Gemeinsam machten sie das Friedens- und Wohlstandsprojekt der EU zu dem, was es heute ist: ein starker Wirtschaftsblock, um dessen ökosoziales Marktwirtschaftsmodell uns viele in der Welt beneiden.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen beauftragte Sebastian Kurz mit der Regierungsbildung.
Foto: Matthias Cremer

Aber schon seit längerem nagt der Zahn der Zeit und des Zeitgeistes an Christ- und Sozialdemokraten. Triumphale Wahlsiege wie der des sozialistischen Premierministers António Costa in Portugal oder am Sonntag davor der haushohe Sieg der zur Sebastian-Kurz-Bewegung mutierten ÖVP in Österreich sind selten geworden. Es ist daher eher schräg, wenn manche ÖVP-Gegner nun behaupten, Kurz habe einen Pyrrhussieg errungen, da es ihm schwerfallen werde, einen von drei möglichen Koalitionspartnern fürs Regieren zu gewinnen. Man muss lange suchen, um erfolgreichere Christdemokraten als die neuen Türkisen zu finden: Nur Fidesz in Ungarn und die Konservativen in Griechenland kamen zuletzt über 37,5 Prozent.

Viel Populismus

Nach dem Regierungsbildungsauftrag durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen müssen die um Einfluss und Macht ritternden Parteien in Österreich ohnehin konstruktivere Ziele und neue Formen jenseits der Klassiker von Rot-Grün oder Schwarz-Blau ins Auge fassen.

In Skandinavien und Finnland sind Minderheitsregierungen ebenso wie Mehrparteienkoalitionen ganz normal. Mehrheiten bilden und regieren ist in vielen Ländern Europas inzwischen zu einer komplexen Sache geworden. Auch weil die Problemlösungen in Zeiten von Klimawandel, digitalem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und wegen der globalen Kräfte mit einfachen (Partei-)Konzepten nicht mehr funktionieren.

In Spanien, Frankreich, den Niederlanden, in Belgien oder Italien, zunehmend auch im lange ultrastabilen Deutschland, konnte man zuletzt dramatische Abstürze von traditionellen Volksparteien beobachten – und viel Populismus. Folge: erstarkte Kleinparteien wie die Grünen in Benelux, die Gründung neuer "Bewegungen" – seien es Emmanuel Macrons Liberale von En Marche, die in Paris dominieren, oder Ciudadanos in Spanien – oder neue Links- und Rechtsparteien.

Und es entstehen mächtige Bürgerinitiativen, wie Greta Thunbergs globale Klimademo Fridays for Future.

Weil das so ist, musste auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, Programm und Struktur ihres Teams unkonventionell und politisch breit ausrichten: eine Christdemokratin, die einen Green Deal bescheren will, Freiheit, Marktwirtschaft und soziale Verantwortung auf eine neue gleiche Ebene heben will. Rechtsnationalismus steht dem entgegen.

Daran sollte man in Wien Maß nehmen. Insofern werden die Koalitionsverhandlungen in Österreich ganz klar zur Zukunftsfrage. ÖVP, Grüne und Neos haben die Chance, im gemeinsamen Europa zur Avantgarde zu werden, wenn sie ihre alten Scheuklappen ablegen und Widersprüche elegant lösen. (Thomas Mayer, 7.10.2019)