Julie von Bismarck
84 Monate

Sieben Jahre gefangen im Kinderwunsch
Piper-Verlag, 2019
298 Seiten, 15,50 Euro

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In jedem Kinderwunschzentrum wurde der Buchautorin wieder versprochen, dass alles mit ihr in Ordnung sei.

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Im Jahr 1883 führte Otto von Bismarck in Deutschland ein revolutionäres Modell ein: die gesetzliche Krankenversicherung. Sie stellt sicher, dass jeder Versicherte im Fall einer gesundheitlichen Einschränkung von den anderen Versicherten aufgefangen wird. Dieses Prinzip der gesellschaftlichen Fürsorge, das schon bald in vielen anderen europäischen Ländern eingeführt wurde, trägt bis heute zur sozialen Absicherung von Menschen in Europa bei. Seine Urenkelin Julie von Bismarck hat mit ihrem medizinischen Problem ganz offensichtlich nicht von diesem System profitiert.

Mit einem unerfüllten Kinderwunsch sind Paare über weite Strecken auf sich alleine gestellt. Vor allem auch finanziell. Wer heute in einer Kinderwunschklinik eine Behandlung will, muss zahlen. Wie emotional dramatisch und finanziell ruinös das sein kann, ist auf 300 Seiten in dem Buch "84 Monate" nachzulesen.

Privilegierte Familie

Das Buch beginnt im Grunde sehr sonnig. Die Autorin gewährt ihrem Publikum erst einmal Einblick in ein ziemlich privilegiertes Leben: alte norddeutsche Familie, fantastische Kindheit, dann eine Traumhochzeit. Bismarck arbeitet als Pferdeexpertin, liebt ihre Hunde, reist in ihr "Sehnsuchtsland Afrika", ein schönes Leben also. Zu Beginn dieses Buches müssen sich die Leserinnen erst einmal auf eine schönen Portion Egozentrik einlassen wollen, doch es lohnt sich, denn vor diesem Hintergrund tut sich mit jeder Seite mehr eine Teufelsspirale auf.

Die Sache mit dem Kinderwunsch beginnt quasi normal. Mit Sex nämlich, einer Schwangerschaft. Doch dann kommt es zu einer Fehlgeburt, die sie vollkommen überraschend trifft. Mit diesem Ereignis begibt sich Julie von Bismarck in die Hände von Gynäkologen, mit deren unterschiedlichen Meinungen sie große Probleme bekommen wird. Während Fehlgeburten zum Alltag von Frauenärzten und -ärztinnen gehören, erschüttern sie das Selbstvertrauen der Autorin im Kern. Je länger sie versucht, schwanger zu werden, und scheitert, umso öfter wird sie die Ärzte wechseln, und umso dramatischer verändert sich ihr Leben.

Schwangerschaft als Lebensziel

Julie von Bismarck beschreibt in ihrem Buch die Karriere vieler kinderloser Paare. Ziemlich schnell ist klar: Wer schwanger werden will und es über Monate nicht schafft, muss Geld investieren. Zuerst werden Tests gekauft, mit denen sich die fruchtbaren Tage ermitteln lassen, dann folgt über Monate und Jahre GVNP (Geschlechtsverkehr nach Plan), dazu unterwirft man sich einer Reihe von Ernährungs- und Verhaltensregeln, die den Kinderwunsch jede Minute alltags- und damit lebensbestimmend machen. Als besonders toxisch beschreibt sie ihre Recherchen auf den einschlägigen Plattformen im Internet.

Mit Codes teilen einander die Frauen in Onlineforen Status, Maßnahmen und Leidensdruck mit. Kiwu heißt Kinderwunsch, NMT steht für den Tag, an dem die Menstruation einsetzen sollte, aber ausbleibt. SS heißt Schwangerschaft, FG Fehlgeburt. Was Julie von Bismarck erschreckt, ist die Konkurrenz zwischen den Frauen, die jede FG als Niederlage und jede SS als Triumph feiern – und von den Kiwu- auf die SS-Plattformen wechseln.

Soziale Isolation

Mit großer Ehrlichkeit beschreibt die Autorin die sozialen Folgen eines unerfüllten Kinderwunsches. Freunde, die sich abwenden, weil sie mit dem Tabuthema nicht zurechtkommen, aber auch die Unlust des Paares, sich mit jungen Familien zu treffen. Sie schlittern in eine verzweifelte Isolation.

Schließlich beginnen sie, in Kinderwunschzentren Hilfe zu suchen. Hormonbehandlungen, Spritzenkuren, schmerzhafte Prozedere und immer wieder Enttäuschungen. Vollkommen unverständlich bleibt, warum das Paar in dieser überaus problematischen Zeit nie psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch genommen hat. Davon wird jedenfalls nicht berichtet. Auch die Möglichkeit einer Adoption wird nur in einem kurzen Absatz abgehandelt. Weil das Buch über weite Strecken als Psychogramm erzählt ist und die Zwanghaftigkeit einer Gedankenwelt mit Kinderwunsch sehr treffend und authentisch wiedergibt, scheint es irgendwie unglaubwürdig, dass diese Möglichkeit, eine Familie zu haben, so gar nicht in Betracht gezogen wurde.

Business mit In-vitro-Fertilisation

Umso präziser geht sie jedoch mit den Kinderwunschärzten und den Methoden der In-vitro-Fertilisation (IVF) ins Gericht. Die differierenden Meinungen ihrer zahlreichen Gynäkologen machen ihr genauso zu schaffen wie deren Beteuerungen, dass "alles mit ihr okay" sei. Denn dieses Okay bedeutete stets erneute, körperlich belastende IVF-Versuche. Sie probiert alles aus, was es derzeit (am Markt) so gibt.

Zuerst wird ihre Eizelle in ihrem Körper befruchtet, dann außerhalb. Viele, viele Male. Julie von Bismarck lässt befruchtete Eizellen einfrieren und sich diese dann einsetzen – alles erfolglos. Ihr Kinderwunsch wird zum Leidensweg, der sie schließlich auch in ein österreichisches Kinderwunschzentrum führt. Hier gibt es laut Bismarck die fortschrittlichsten Methoden. Doch auch sie bringen dem Paar keinen Erfolg.

Wenn einem zu Beginn des Buches die immer wieder eingestreuten Hundegeschichten der Autoren (nur der Hund spendet Trost) noch auf die Nerven gegangenen sind, dienen sie gegen Ende als kurze Erholungspassagen in der Lektüre.

Die Moral der Geschichte

Die Autorin hat dieses Buch geschrieben, weil sie anderen Betroffenen Mut machen will, sagt sie und nimmt damit auch vorweg, dass es für sie und ihren Mann ein "Happy End" gibt. Über die Schwangerschaft mit einer Leihmutter, die es schlussendlich geworden ist, wird Bismarck sicherlich auch noch ein Buch schreiben. Ein Gedanke zum Schluss: Für die vielen kinderlosen Paare, die sich das einfach nicht leisten können, ist das Ende des Buches also ganz und gar nicht gut.

Schön wäre, wenn im von Bismarck erdachten solidarischen Gesundheitssystem auch ein unerfüllter Kinderwunsch zu einer Kassenleistung würde. Bei sinkenden Geburtenraten und Frauen, die immer später im Leben einen Kinderwunsch entwickeln (und damit viel schwerer schwanger werden können), wäre das vielleicht sogar eine gute Idee, um das System für die nächsten Generationen zu erhalten. (Karin Pollack, 16.10.2019)