Das Wort war rasch gefunden. Schon bevor es wirklich losging: "Startplatzneid". Und das, obwohl ich mir vergangenen Juli nach meinem Powerwalk-Nahtoderlebnis in Klagenfurt geschworen hatte, was sich die meisten Menschen irgendwann im Laufe eines Langdistanz-Triathlons ebenfalls denken, wenn sie im Tal der Tränen ankommen: "Nie wieder!"

Foto: thomas rottenberg

Aber das war damals. Dort. Doch jetzt war ich hier. Hier, das war Barcelona. Genauer: die Strandpromenade von Calella, rund 50 Kilometer vor Barcelona. Jetzt, das war der frühe Samstagmorgen.

Morgen, am Sonntag, würde hier die größte Triathlonveranstaltung von überhaupt stattfinden: der Ironman Barcelona. Meine Lieblingsmenschen würden mitmachen. Ich nicht. Ich hatte schließlich "nie wieder!" gesagt, damals, in Klagenfurt. Doch jetzt, während meines Solo-Morgenlaufs, war da nur eines: Startplatzneid.

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Damals in Klagenfurt war es wirklich die Hölle. "Nie wieder", hatte ich mir (und allen, die es hören oder auch nicht hören wollten) wieder und wieder gesagt, würde ich mich für eine Triathlon-Langdistanz anmelden. Nicht wegen der 3,8 Kilometer im Wasser. Nicht wegen der 180 Kilometer auf dem Rad. Nicht wegen der ersten zehn oder zwanzig Kilometer auf der Laufstrecke.

Aber sehr wohl wegen dem, was auf den paar Meilen, die dann doch auf die volle Marathondistanz (42 Kilometer) fehlen, irgendwann passiert. Ein bisserl im Körper. Aber vor allem im Kopf: "Nie wieder!" Nicht, wenn man mir dafür viel Geld hinlegen würde. Schon gar nicht, wenn ich selbst dafür zahlen müsste: So blöd bin ja nicht einmal ich.

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Aber das Training für diesen Unfug ist einfach zu geil. Und weil sich rund um mich etliche Menschen gerade auf Tri-Langdistanzen vorbereiteten, machte ich den Sommer über einfach mit. So als ob. Und weil es beim Bewerb, egal wo, egal welcher Sport, meist besser flutscht, wenn man nicht ganz allein vor Ort ist, kam ich dann mit. Als "Supporter": Sportreisen basieren als Geschäftsmodell genau darauf.

Zum Berlin-Marathon etwa bringt jede Läuferin oder Läufer 2,3 statistische Begleiter oder Begleiterinnen mit. Bei anderen Events ist das ähnlich. Davon leben ganze Regionalwirtschaften – speziell in der sogenannten "Schultersaison", der Übergangszeit von der Haupt- in die Nichtsaison.

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Der Ironman von Barcelona ist da nicht anders: Mit 3.800 Starterinnen und Startern ist er laut Veranstaltern der größte Tri-Sportevent der Welt.

Bei zwei Begleitnasen pro Athlet und einem durchschnittlichen Aufenthalt von dreieinhalb Nächten ist das ein relevanter Impuls für eine Region, in der die Saison Mitte September vorbei ist – und es außer der Monokultur "Ballermann-Massentourismus" wenig gibt.

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Dass Calella so wie viele Orte an der Costa Brava und überall auf der Welt irgendwann einmal schön und malerisch gewesen sein dürfte und heute eine schlicht grauenhafte Bettenburg-Agglomeration ist, tut da nichts zur Sache.

Oder vielleicht ja doch: Wenn Gastro- und Hotelpersonal von Mai bis September zwischen grölenden und betrunkenen Geiz-ist-geil-Reisenden arbeiten muss, sind vier Tage mit einer Gästemajorität, die weder durchgehend säuft noch sonstwie Dauerparty oder Rabatz macht, fast eine Erlösung.

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Ganz abgesehen davon, dass Leute, die 600 Euro für einen Startplatz hinlegen (können), dann rund um eben diesen nicht jeden Cent umdrehen. Eher im Gegenteil.

Wenn den Besuchern die touristische Bespaßungs-Infrastruktur dann auch noch egal ist: umso besser für eine davon ausgelaugte Zone. Sportreisende wollen keine Fake-Folkloreabende im Haus, sondern saubere Zimmer nahe dem Eventzentrum. Und die Möglichkeit, sich einzustimmen, ohne Pauschalurlaubern in die Quere zu kommen.

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Unsere Gruppe war da nicht anders. Fünf gingen an den Start: zwei Frauen und drei Männer.

Eine, Carina (Bildmitte), wagte sich zum ersten Mal an die Ironman-Distanz. Im Schlepptau kam eine Handvoll Supporter. Eltern, Partner, Ehefrauen, Freund. Eine vergleichsweise kleine Gruppe, wie wir im Hotel, einem typischen 08/15-Bunker, rasch sahen.

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Unser Tagesablauf glich dem des übrigen Iron-Volkes: zeitig in der Früh Einplanschen. Gut und viel frühstücken. Chillen, Startunterlagen abholen, zerlegte Fahrräder zusammenbasteln, eventuell eine kleine Ausfahrt oder ein bisserl laufen. Essen – viel und richtig. Chillen. Schlafen.

Sich, einander und jeden, mit dem man ins Gespräch kommt (man kommt ständig ins Gespräch) in allen Sprachen der Welt mit Geschichten über alles, was schon passiert ist, passieren kann, soll oder auf keinen Fall passieren darf, wahnsinnig machen. Dabei merken, dass wir zwar alle verschieden, aber eben doch gleich sind.

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Außerdem geht man einkaufen. Die Behauptung, dass mit Merchandisingzeug mehr verdient wird als mit Wettkämpfen, ist natürlich Mumpitz.

Als Bild und Narrativ taugt sie aber. Denn das Motto "Exit through the giftstore" wird nicht einmal ansatzweise camoufliert. Jeder durchschaut es – und niemanden stört es: Es wird ja niemand gezwungen, mitzuspielen.

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Und mitspielen wollen tausende. War "The Ironman" vor 41 Jahren der Titel, der dem Sieger des Ur-Bewerbes in Hawaii verliehen wurde, ist daraus längst ein Mega-Business und eine Massenbewegung geworden.

Die Marke, deren Logo einst um rund 30 Dollar hingescribbelt wurde, wurde vor einigen Jahren an den chinesischen Megakonzern "Wanda" verkauft. Um 600 Millionen Dollar.

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Heute hält Ironman jährlich mehr als 150 Langdistanz-Rennen und zahllose Mitteldistanz-Triathlons und Ähnliches ab. Und wer beim Überqueren der Ziellinie das legendäre "You are an Ironman!" hören will, tut gut daran, den Startplatz möglichst ein Jahr im Voraus zu buchen.

Wirklich problematisch ist das aber nicht: Um sich für diesen Stunt vorzubereiten, trainiert man ohnehin ein Jahr. Mindestens.

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Der Mega-Businesscase, die Kommerzialisierung, ändert aber an einem Umstand nichts: an der Leistung. Die muss jeder und jede selbst bringen. Und ganz egal, wie man zum Remmidemmi steht, ist die kein Lercherlschas.

Denn ein Spaziergang ist keine der drei Disziplinen. Auch schon bei den nur vermeintlich einfacheren, weil kürzeren Bewerbsformen (Sprint, olympische und Mitteldistanz) nicht: Wer das (im Übrigen: egal über welche Sportart) sagt, lügt. Oder hat noch keinen Schritt hinaus aus der eigenen Komfortzone gewagt. Wie langweilig!

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Zurück nach Calella. Zurück zum Begleiten. Zurück zum Startplatzneid: Wenn 10.000 Spinner (die Begleiter sind selten ganz unsportlich) an einem Ort gleich ticken, entwickelt sich rasch eine eigene Dynamik. Eine Sehnsuchtswolke. Weil Träume ansteckend sein können.

Nicht zuletzt, weil Schönes verbindet, schöner wird, wenn man es teilt – und geradezu metastasiert, wenn man es gemeinsam noch ein bisserl pimpen kann: Dass ein Sonnenaufgang am Strand mit zum Schönsten gehört, was es gibt, ist nichts Neues ...

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... aber die Sonne dann nicht am, sondern im Meer aufgehen zu sehen, ist dann noch einmal etwas anderes.

Natürlich muss man dafür noch ein bisserl früher raus. Man sollte können, was man tut. Dass der Rest der Welt das mit "Ihr seid schon ein bisserl plemplem" kommentiert, muss einem egal sein. Oder aber man lebt in einer Blase, in der man niemandem erklären muss, was man da wie, wieso und wann tut, sondern es nur "Thumbs up" gibt, wenn am Abend jemand sagt: "He Leute, wollen wir morgen in den Sonnenaufgang schwimmen?"

Und egal, wie teuer ein Startplatz sein mag: Diese Momente kann man für Geld nicht kaufen.

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Und jetzt stellen Sie sich einfach vor, an einem Ort zu sein, der von diesem Spirit nicht nur lebt, sondern vibriert. Wo alle dieses Brennen im Herzen kennen.

Und zwar auch dann, wenn sie wissen, wie es ist, im Bewerb dann im "Tal der Tränen" anzukommen. Und sich, unabhängig, ob man die Ziellinie sieht, schwört: "Nie wieder!"

Foto: thomas rottenberg

Ja, genau so funktionieren Massenbewegungen. So geht Religion, Kult – und auch Faschismus: über Gemeinschaft, Heimat- oder Zugehörigkeitsgefühl. Im schlimmsten Fall nehmen Menschen dann Knüppel oder Gewehre in die Hand und ziehen los, irgendeinen als Feind definierten anderen zu besiegen oder zu vernichten.

Im besten Fall machen sie Sport. Und auch wenn da zeitgleich mehrere Tausend andere am gleichen "Kreuzzug" sind, gibt es nur einen Gegner: sich selbst.

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Und je tiefer das Tal der Tränen ist, je beschwerlicher die Mühen der Ebene sind, je inbrünstiger man dieses "Nie wieder!" herausbrüllte, umso schöner ist es, anzukommen.

Zu spüren, dass Plattitüden wie "der Schmerz vergeht, der Stolz bleibt" eben nicht nur Plattitüden sind: Das da, dieses Ziel habe ich mir selbst gesetzt und selbst erkämpft. Das da war ich nicht nur: Das hier bin ich. Das nimmt mir niemand mehr weg.

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Und auch wenn ich tausend Mal "Nie wieder!" gesagt und es auch jedes Mal so gemeint habe: Gegen die Sehnsucht nach einem Traum, gegen den Wunsch, dieses Gefühl, diesen Triumph, diesen Stolz wieder zu spüren, ist man nie immun. Das ist das Tückische an jeder Sucht. Deshalb setzt sich ein trockener Alkoholiker nicht zum Branntweiner, hängt der Ex-Junkie tunlichst nicht mit den alten Kumpels ab und arbeitet der entwöhnte Kettenraucher eher nicht in einer Trafik.

Aber ich fahre zur größten Triathlonparty Europas und tummle mich drei Tage im Auge eines gigantischen Swim-Bike-Run-Taifuns: Am Streckenrand ist es zwar ruhig – aber ich sehe, spüre und rieche ja, was rund um mich tost.

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Da immun und unversucht zu bleiben, schafft keiner. Nicht einmal aus der Ferne. Schon während des Starts am frühen Morgen blubberten die "Schick endlich Bilder oder Insta-Storys"-Aufforderungen von daheim ins Smartphone (auf meinem Facebook-Account gibt es ein paar Impressionen): Dass ich (der Job ist eine perfekte Ausrede) da erste Reihe fußfrei zuschauen konnte, machte die Begehrlichkeiten nicht gerade weniger. ("Das ist bitte schon auch deine Pflicht!") Und im Laufe des Tages kam dann auch aus der Heimat: "Ich wollte eigentlich nie wieder eine Langdistanz machen – aber es beginnt gerade zu jucken."

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Als das Rudel am Rad unterwegs war, hatte ich dann ein paar Stunden Zeit für mich. Ging also laufen. Wohin? Natürlich die Bikestrecke entlang: Die Küstenstraße von Calella in Richtung Barcelona.

Nicht nur, um die Ausblicke, die Luft, die letzten Sonnenstrahlen am Meer vor dem Herbst in Wien einzusaugen – sondern auch, um die Atmosphäre zu genießen. Die Energie. Die Wolke. Die Aura.

Und bei aller Freude, bei allem Anfeuern, doch auch ein bisserl zu leiden: Wieso seid ihr da dabei – und ich schaue nur zu?

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Dann, als die Masse lief, nicht bloß zu wissen, sondern auch zu sehen, wie brutal und grausam diese 42 Kilometer zu Fuß sein können, tat dem keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Denn genau darum geht es: die Herausforderung anzunehmen. Zu akzeptieren, dass man da alleine durch muss, egal, wie viele Freunde, Zuseher und Mitstreiter da an und auf der Strecke sind.

Sich etwas anzutun, was doch eigentlich unmöglich ist. Und man, wäre man halbwegs bei Trost, nie tun würde. Weil (abgesehen von "Das kann nicht gehen") vollkommen klar ist, dass es brutal werden wird. Elend. Schmerzhaft. Unendlich lang.

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Es trotzdem überhaupt zu versuchen ist ein großer Teil von dem, worum es hier geht. Auch darum, zu akzeptieren, dass Scheitern immer eine Möglichkeit ist. Ganz egal, wie gut, lang und fokussiert man sich vorbereitet hat. Weil jeder Tag anders ist – und man nie alles zu 100 Prozent planen, kontrollieren, vorhersagen kann.

Sport, Laufen, Triathlon, die Langdistanz – das ist bloß eine Metapher. Ein Gleichnis. Eine Erinnerung. Ein Hinweis auf das, was zählt.

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In einer an sich selbst erstickenden Welt voller Ab- und Versicherungen, doppelter und dreifacher Netze und Reset-Knöpfe, voll delegierter Verantwortungen, von Ursachen und Ergebnissen entkoppelten Arbeitsprozessen und (für einen selbst) konsequenzlos-anonymisierten Entscheidungen, ist das viel. Sehr viel.

Es geht darum zu spüren, was Leben ist. Sein kann. Sein sollte: eine Jagd nach Träumen und Sehnsüchten. Der Versuch, nicht das Verharren.

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Ankommen ist dann das Tüpfelchen auf dem I. Der Zielbogen, die röhrende Menge, das Licht, der Jubel, das endlich Loslassenkönnen, die Medaille, das "You are an Ironman!": Der Moment des Triumphes ist der hochverdiente, krönende, aberwitzige und nie für erreichbar gehaltene Schlusspunkt eines langen Weges – der gerade deshalb so schön ist, weil er nicht einfach war.

Und auch wenn das in diesem Augenblick niemandem bewusst ist: Es ist ein Weg, der einen (hoffentlich) weiter als bloß unter dieses rote M geführt hat – und weiter führen wird. Zu dem, wer und was man ist und sein will. Zu sich selbst.

Foto: thomas rottenberg

Ich stand am Sonntag fünf Meter hinter diesem Bogen am Strand von Calella und wartete. Alle meine fünf Freunde kamen an. So wie 2.700 der anderen 3.800 Starterinnen und Starter. Die Gesichter, die Mienen, der Jubel – das waren 2.700 einzigartige und doch so gleiche Geschichten.

Eine Geschichte, die ich gut kenne. So wie den Satz, den ich dann in tausend Sprachen immer wieder hörte: "Nie wieder!" Ich sagte darauf nichts: In dem Moment, in dem man das sagt, glaubt man es nämlich wirklich. Und das ist gut so.

Hinweis im Rahmen der redaktionellen Leitlinien: Die Reise zum Ironman Barcelona wurde zur Gänze privat organisiert und bezahlt.

Auf der Facebookseite von Tom Rottenberg gibt es eine Bilder- und Videogalerie mit Impressionen vom Renntag.

(Thomas Rottenberg, 9.10.2019)

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