Am Dienstag war EU-Parlamentspräsident Sassoli in Berlin zu Besuch bei Angela Merkel. Anschließend flog er nach London, um mit Johnson über dessen Brexit-Pläne zu sprechen.

Foto: MICHELE TANTUSSI / AFP

London – Auf der Suche nach einer Lösung im Brexit-Streit reist EU-Parlamentspräsident David Sassoli am Dienstag nach London zu Premier Boris Johnson. Am frühen Abend (18.15 Uhr MESZ) beraten die beiden Politiker, wie vor dem für Ende Oktober geplanten britischen EU-Austritt eine Einigung gefunden werden könnte. In London tagt zudem das britische Unterhaus zum letzten Mal, bevor es in Zwangspause geht.

Johnson hatte vergangene Woche neue Vorschläge für ein geändertes Austrittsabkommen präsentiert, die aber in der EU auf Widerstand treffen. Es geht um die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland auch nach dem Brexit offen bleiben kann. Der 2018 ausgehandelten Brexit-Vertrag sieht eine Übergangslösung mit einer Zollunion vor, den sogenannten Backstop. Den lehnt Johnson aber ab.

"Abkommen prinzipiell unmöglich"

Aus diesem Grund glaubt die britische Regierung einem Bericht zufolge nicht mehr an einen Erfolg der Gespräche über ein EU-Austrittsabkommen. Das geht aus einer Mitteilung hervor, die der Sender Sky News am Dienstag aus britischen Regierungskreisen erhalten haben will – und deren Echtheit der Deutschen Presse-Agentur bestätigt wurde.

Die Mitteilung nimmt Bezug auf ein Telefonat der deutschen Kanzlerin Angela Merkel mit Johnson von Dienstagmorgen. Darin habe sich Merkel skeptisch zu den Aussichten für ein Brexit-Abkommen geäußert. Eine Übereinkunft sei überaus unwahrscheinlich, sollte Nordirland nicht in der Zollunion mit der EU verbleiben, hatte Merkel laut einem britischen Insider gesagt, der nicht genannt werden wollte. Falls die in dem Gespräch geäußerte Position einen neuen Standpunkt wiedergebe, könne man einen Deal mit der EU praktisch vergessen: "Nicht nur jetzt, sondern immer", hieß es in den Regierungskreisen.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert bestätigte lediglich, dass das Telefonat stattgefunden hat, zu den Inhalten äußerte er sich nicht. "Wie üblich berichten wir aus solchen vertraulichen Gesprächen nicht", teilte er der dpa mit.

Irischer Finanzminister kündigt Milliardenhilfen an

Der irische Finanzminister Paschal Donohoe hat Wirtschaftshilfen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro angekündigt, um die drohenden Auswirkungen eines No-Deal-Brexit auf die irische Wirtschaft abzumildern. Das von ihm in Aussicht gestellte Budget für 2020 sei ein "nie dagewesenes", aber es sei auch eine nie dagewesene Situation, sagte Donohoe am Dienstag.

Der Finanzminister hält einen ungeordneten Brexit derzeit für wahrscheinlich und erklärte, 600 Millionen Euro würden dafür eingesetzt, um Schlüsselsektoren der irischen Wirtschaft, wie die Landwirtschaft und den Tourismus, vor möglichen negativen Folgen zu schützen.

Tusk attackiert Johnson

EU-Ratspräsident Donald Tusk attackierte Johnson am Dienstag mit scharfen Worten: Es gehe nicht um das Gewinnen eines "dummen Schwarzer-Peter-Spiels", schrieb Tusk am Dienstag auf Twitter. Es gehe um die Zukunft Europas und Großbritanniens, um die Sicherheit und die Interessen der Menschen.

"Sie wollen keinen Deal, Sie wollen keine Fristverlängerung, Sie wollen den Austritt nicht widerrufen, quo vadis?", fragte Tusk in Richtung Johnson. Tusk war am Dienstag für ein Treffen mit Merkel in Berlin.

Neue Verhandlungen über neue Vorschläge

Über die britischen Alternativvorschläge wird am Dienstag in Brüssel erneut verhandelt. Die Gespräche am Montag hatten keine erkennbaren Fortschritte gebracht. Beide Seiten stehen unter Druck, noch vor dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober einen Kompromiss anzubahnen. Wie eine allseits akzeptable Lösung aussehen könnte, ist aber offen. Gelingt nicht rechtzeitig ein Durchbruch, dürfte die Debatte über einen weiteren Aufschub des Brexits Fahrt gewinnen.

Das britische Parlament hatte gegen Johnsons Willen ein Gesetz verabschiedet, das die Regierung in diesem Fall ab dem 19. Oktober zu einem Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist zwingt. Johnson betont allerdings trotzdem, dass er ohne weitere Verzögerung zum 31. Oktober auszutreten beabsichtige – auch ohne Austrittsvertrag.

Übergangslösung mit Vertrag

Mit Vertrag würde zunächst bis Ende 2020 eine Übergangsphase gelten, in der sich praktisch nichts ändert. Ohne Abkommen entfielen diese Schonfrist sowie alle Vereinbarungen zur irischen Grenze, zum Schutz der Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich und zu weiteren finanziellen Leistungen Londons an die EU.

Von heute auf morgen müssten Zölle und Kontrollen an den Grenzen zu Großbritannien eingeführt werden, Lieferketten würden unterbrochen und Millionen Bürger in Unsicherheit gestürzt. Die Wirtschaft befürchtet schlimme Folgen für die Konjunktur.

Bei der Präsentation des Budgets für kommendes Jahr, verkündete der irische Finanzminister Paschal Donohoe, dass er für den Fall eines "No-Deal-Brexit" vorgesorgt habe. Mehr als 1,2 Milliarden Euro sind für eine Reaktion auf den Ausstieg Großbritanniens aus der EU vorgesehen. Laut dem Irish Examiner sind davon 200 Millionen Euro für mehr Personal in Regierungsabteilungen und an Häfen und Flughäfen vorgesehen. 650 Millionen Euro gehen an Unterstützungen für die Landwirtschaft, Wirtschaftsunternehmen und den Tourismussektor. Spezielle Finanzhilfen wird es für Rindfleischzüchter geben und 365 Millionen Euro sollen in den sozialen Sektor fließen. (APA, dpa, Reuters, red, 8.10.2019)