Norwegen – ist das nicht das Land, wo man die Stille hören und die Weite riechen kann? Auf dem Preikestolen scheint beides schwierig, es ist dort laut und eng. 300.000 Menschen pro Jahr, mehr als 800 täglich, besuchen das 25 mal 25 Meter große Granitplateau über dem Lysefjord. Sie wandern nur deshalb zu der Felskanzel, um noch ein weiteres Bild davon auf Instagram zu posten – bis dato gibt es gut 190.000 mit dem Hashtag Preikestolen. Die meisten zeigen einen "einsamen Eroberer" vor vermeintlich menschenleerer Kulisse.

Nicht zu sehen ist die Menschenschlange, die am Rand des Plateaus wartet, um dasselbe Motiv einzufangen. Wählt der Fotograf die Perspektive geschickt, verdeckt die 600 Meter hohe, senkrecht abfallende Felswand sogar das Kreuzfahrtschiff, mit dem er vielleicht gekommen ist. Ist das nicht seltsam? Oder nur eine neue, besonders perfide Form von Overtourism? Jeder auf dem Preikestolen müsste einsehen, dass die Wanderung dorthin nicht in die Einsamkeit führen kann. Nur zugeben will es keiner.

Der norwegische Preikestolen wird gern als einsamer Ort inszeniert. 300.000 Menschen besuchen ihn pro Jahr.
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Genau über diesen Widerspruch hat Norwegens bekanntester Komiker Are Kalvø eine Anklageschrift verfasst. Auf der Anklagebank sitzt auch er selbst. In seinem Buch Frei. Luft. Hölle klagt er darüber, nun ebenfalls zu jenen zu gehören, die dem Outdoorwahn verfallen sind. Fast 80 Prozent von Kalvøs Landsleuten gehen regelmäßig in den Wald oder auf einen Berg, weiß das statistische Zentralamt in Norwegen. Der Autor konnte nie nachvollziehen, warum sie das tun. Kalvø wuchs im Nordwesten Norwegens auf, umgeben von Fjorden und Bergen, die staunende Menschen aus aller Welt bereisen. Er hingegen wollte nur möglichst schnell von dort weg, in die Stadt, und die Natur endgültig hinter sich lassen.

Langeweile

Alsbald setzte in Oslo eine Entwicklung ein, die ihn beunruhigte: Er verlor immer mehr seiner Freunde an die Natur. Sie posteten auf einmal nur noch Bergfotos auf Facebook, Motive wie jene vom Preikestolen, sehr häufig in der einschlägigen Entdeckerpose mit ausgestreckten Armen. Als er eines Abends mutterseelenallein im Irish Pub saß, während seine Freunde irgendwo in der Natur herumstolperten, kamen ihm Zweifel: Sollte am Ende er falsch liegen? Um das herauszufinden, sah er sich die "Religion Outdoor" erst einmal an. Und verarbeitete seinen Selbstversuch, die Natur wieder lieben zu lernen, zum Buch.

Trolltunga

Mit seiner packenden Beschreibung der Langeweile, die er bei jeder Bewegung in Funktionskleidung im Freien empfindet, verdrängte der 49-Jährige sogar Michelle Obama von Platz eins der norwegischen Bestsellerliste. Vor kurzem ist der Titel auch auf Deutsch erschienen, was die Veranstalter der Frankfurter Buchmesse veranlasste, Kalvø als aktuell brauchbarsten Botschafter für norwegisches Lebensgefühl außerhalb eines irischen Pubs einzuladen. Norwegen ist Gastland auf der am 16. Oktober beginnenden Messe und darf mit Kalvø nun beweisen, deutschen Humor vom Kaliber eines Hape Kerkeling kopieren zu können.

Karikatur von Ferien

Doch bereits Kerkeling hat mit dem Phänomen gewordenen Erlebnisaufsatz über eine Auszeit auf dem Jakobsweg (Ich bin dann mal weg) eines nicht geschafft: dass weniger Menschen nach Santiago de Compostela pilgern. Ganz im Gegenteil ging es dort nach seinem Buch erst richtig rund, was dank Kalvø nun auch dem letzten auf Instagram unveröffentlichten norwegischen Granitblock dräut. Es verhält sich nämlich stets so mit Schmähschriften über gut besuchte Wanderziele, dass deren finale Stürmung durch sie als besiegelt gilt. Ein Beispiel: Der in den sozialen Medien gut dokumentierte norwegische Stein Trolltunga (160.000 Posts auf Instagram) hat seit dem Erscheinen von Kalvøs Buch nur noch mehr Einsamkeit suchende Menschen angezogen.

Die norwegische Natur bietet beste Instagram-Motive

Über das in Norwegen sehr beliebte Weitwandern von Hütte zu Hütte sagt Kalvø: Es sei wie Interrail, nur für Leute, die gern früh ins Bett gehen. Oder an anderer Stelle: "In den Bergen von Hütte zu Hütte zu wandern ist bestenfalls eine Karikatur von Ferien, die ausschließlich die zwei langweiligsten Ferientätigkeiten beinhaltet: Packen und Schleppen." Auch an der Naturnähe der Aktivität scheint er Zweifel zu haben, wenn er die Hütte in der Nähe des Preikestolen so beschreibt: "Sie bietet Aussicht auf einen Parkplatz, Menschen und wenig Natur." Bedeutet das, dass die Norweger und eine erkleckliche Zahl an Ausländern irren, wenn sie in einer norwegischen Hütte nichts als Einsamkeit und Stille vermuten?

Die Stille von Skjolden

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwo sonst so arbeiten könnte, wie ich es hier tue", schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1936 über die Stille in seiner Hütte in Skjolden. Das ist ein Zeiterl her, doch seit sich Wittgenstein ein Jahr lang in Norwegen zurückgezogen hat, um an seinen Philosophischen Untersuchungen zu arbeiten, hat sich nicht viel verändert am Lustrafjord. Meist geht es im 200-Seelen-Dorf Skjolden so ruhig zu, dass die Gemeinde philosophisch angestrengt nachdenken muss, wie man überhaupt ein paar Leute herbringt.

2016 kaufte die Gemeinde deshalb das Gelände, auf dem Wittgensteins Hütte ursprünglich stand, im selben Jahr entstand die Skjoldener Wittgenstein-Stiftung. Deren wichtigste Aufgabe: das gut 50 Quadratmeter große Refugium auf dem originalen Standort neu zu errichten. Das alte Wittgenstein-Haus war nämlich 1958 von der einsamen Kanzel über dem Fjord in den Ort gebracht und nur notdürftig renoviert worden. Seit Juni 2019 gibt es nun den Neubau, der auch für Besucher über einen Wittgenstein-Wanderweg zugänglich ist.

Ludwig Wittgenstein lebte und arbeitete 1936/37 in Skjolden.
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Aber was wollen einem die Skjoldener mit dieser kargen Hütte, die außer dem wunderbaren Ausblick nicht viel zu bieten hat, bloß sagen? Vermutlich nur: Es gibt sie eh noch, die Stille in Norwegen, die zum Nachdenken taugt. Es wird sogar überlegt, den Ort aktiv als Reiseziel zum Philosophieren zu bewerben. Wenn das nicht nach einer weiteren Steilvorlage für den Komiker Are Kalvø klingt. (Sascha Aumüller, RONDO, 16.10.2019)