Langsam legt sich der Herbst über die Stadt. Es ist einer der ersten Abende, an denen der Nebel in den Bäumen der Prater-Hauptallee in Wien hängen bleibt. Dort, wo die Allee aufhört und riesige Gebäude gespenstisch in die Höhe ragen, die für die Weltausstellung 1873 erbaut wurden.

Beim Steinbeisser-Event in Wien wurde Willy Brandts alter Opel zur Bartheke.
Foto: Thomas Albdorf

Heute befindet sich in einem davon das Studio des Künstlers Constantin Luser. Für besagten Abend hat er seine Arbeiten an die Wände gerückt, um Platz zu schaffen für einen besonderen kulinarischen Event. Zum ersten Mal veranstaltet das Kreativduo Steinbeisser seine "Experimentelle Gastronomie" in Wien.

Was einen an diesem Abend erwartet, weiß keiner so genau, nur dass sich die Veranstaltung irgendwo zwischen Kunst und Kulinarik bewegt. Beim Eintreffen werden die 60 Gäste gebeten, den Aperitif beim alten dunkelblauen Opel gegenüber abzuholen. Es handelt sich um das ehemalige Auto des verstorbenen deutschen Kanzlers Willy Brandt, das wahrscheinlich zum ersten Mal als Apéro-Reiche fungiert.

Vegan und Demeter

Hinter Steinbeisser stehen die Kreativen Martin Kullik und Jouw Wijnsma. "Es geht darum, das Bewusstsein zu erweitern und aufhorchen zu lassen, beispielsweise in Hinblick auf unsere Umwelt und den Umstand, dass wir zu viel Fleisch essen", erklärt Kullik die Idee zu dem Projekt, das seit 2012 existiert. Die Speisen bei den Steinbeisser-Events sind immer vegan und aus Demeter-klassifizierten Produkten gekocht.

Gegessen wird von Geschirr und mit Besteck, die eigentlich Kunstwerke sind und bei jedem Event von anderen Kunstschaffenden kreiert werden. Die Werke kann man nach den Veranstaltungen in Jouw Wijnsmas Onlineshop kaufen. An dem Abend in Wien wird die Tafel mit Arbeiten von Eija Mustonen, Jenni Sokura, David Wolkerstorfer, David Louveau, Erik Haugsby, Gregor Titze, Lillian Tørlen, Lisa Fält, Petra Lindenbauer, Pia Groh und Sofie Nørsteng eingedeckt. Da gibt es etwa einen eineinhalb Meter langen Löffel, dessen Benutzung das Teamwork der Gäste erfordert, oder eine vulkanähnliche Schüssel, aus der alle mit den Fingern Salat essen.

Bei den Dinnerevents von Steinbeisser verschwimmt die Grenze zwischen Kulinarik und Kunst.
Foto: Thomas Albdorf

Die kunstvoll angerichteten veganen Speisen werden bei jedem Event von anderen Köchen zubereitet. Im Juni etwa ist der taiwanesische Spitzenkoch André Chiang nach Amsterdam gereist, wo der Steinbeisser-Dinnerevent in einem ehemaligen Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert stattfand. Bei der ersten Veranstaltung in Wien kocht die Healthy Boy Band auf. Das ist das unorthodoxe Projekt der Topköche Philip Rachinger, Felix Schellhorn und Lukas Mraz (RONDO berichtete) mit eigenem Manifest, in dem unter anderem geschrieben steht: "Die Healthy Boy Band ist nichts für engstirnige Arschlöcher, sie schafft Atmosphäre und denkt über weit mehr nach als Essen."

Ungewöhnliche Speisen werden mit nicht minder ungewöhnlichem Besteck serviert.
Foto: Thomas Albdorf

Musiker Zanshin begleitet den Event mit Didgeridoo, Electro-Sounds und Blasinstrumenten. Für die Weinbegleitung zeichnen die Winzerinnen Rennersistas und Winzer Claus Preisinger verantwortlich. Wer alkoholfrei unterwegs ist, dem stehen Ginger-Beer, 18-Kräuter-Aufguss und Cassis-Reduktion mit Rhonenessig zur Seite. Gemixt von Felix Schellhorn, erklärt und eingeschenkt von Sommelier Stefan Klettner.

Mehr als Skizzen machen

60 Gäste, die für diesen Abend 250 Euro bezahlt haben, sitzen auf mit Schaffellen bedeckten Bierbänken und teilen sich Speisen mit den Namen "Crunchy", "Süß-Sauer" und "Hot Kürbis". Serviert werden sie auf einem von Künstlerin Lisa Fält kreierten Löffel mit fünf Mulden. Dem Kürbis folgt Maisbrot mit Ahornsirup und Honig. Danach kommt die "Matcha Bowl" in einer Schüssel von Künstler David Louveau auf den Tisch. Aufgerührt wird die Speise mit einer Eigenkonstruktion – einem Matcha-Beserl auf einem Akkuschrauber.

Langstielige Löffel zum Füttern der Sitznachbarn.
Foto: Kathrin Koschitzki

Als die Schüssel reihum geht, hat das etwas von einer Tafelrunde samt Heiligem Gral. Das Teilen des Essens verbindet. Die Gäste lernen einander kennen, aus Fremden wird eine Gruppe, die miteinander redet, lacht und sich etwa über den erstaunlich fleischigen Geschmack und die Konsistenz der "Tomate XO" austauscht oder des "Schweinsbraten-Sellerie", der kein Fleisch vermissen lässt. "Knoblauch und Kümmel sind die Grundzutaten der österreichischen Küche", erklärt Mraz das Geheimnis der Verwandlung vom Sellerie zum Schweinsbraten.

Bei Philip Rachinger hingegen werden rote Rüben zu Speck, weil er sie wie diesen räuchert und lagert. Das fleischig anmutende Wurzelgemüse wird auf einem Gebilde von Künstlerin Petra Lindenbauer serviert, das aussieht wie ein Meteoritensplitter. Für das Gericht "Karotten-Würstl-Stand" hat die Healthy Boy Band eine dehydrierte, rehydrierte und dann frittierte Karotte zu einer "Wurst" fingiert. Dazu gibt's selbstgemachten Senf. Als Finale werden Kuru Fasulye, ein klassischer Bohneneintopf aus der Türkei, Götterspeise und Sorbet aus Kapuzinerkresse sowie Quittenkäse oder linksgedrehter Pfirsichstrudel mit Graumohn serviert. (Nina Wessely, Rondo, 14.10.2019)