Hinter den jüngsten Schachzügen von Boris Johnson vermuten viele dessen Chefberater Dominic Cummings.

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Nachdem aus der Downing Street tags zuvor dem irischen Premier Leo Varadkar heftige Vorwürfe gemacht worden waren, verbreiteten Sprecher von Boris Johnson am Dienstag Details aus einem Telefonat des Premierministers mit Angela Merkel. Dabei habe die deutsche Kanzlerin den permanenten Verbleib Nordirlands in der EU-Zollunion gefordert und damit ein Abkommen "prinzipiell und für immer unmöglich" gemacht. Das Pfund fiel an der Londoner Börse um 0,7 Prozent.

Während der deutsche Regierungssprecher mit Hinweis auf die Vertraulichkeit der Unterhaltung keine Details preisgeben mochte, zitierten Johnsons Spindoktoren detailliert aus der 30-minütigen Unterredung. Der Premier habe die neuen Ideen zur Lösung des nordirischen Dilemmas als "vernünftiges Angebot" bezeichnet. London zufolge soll der britische Teil der Grünen Insel im Binnenmarkt verbleiben, aber gemeinsam mit der britischen Hauptinsel aus der Zollunion ausscheiden. Die daraus resultierenden Kontrollen ließen sich abseits der inneririschen Grenze einrichten. Deren Offenhaltung gilt als unablässig für die Beibehaltung des fragilen Friedens in Nordirland, dessen 30 Jahre währenden Bürgerkrieg 1998 das Karfreitagsabkommen beendet hatte.

Merkels Forderung nach dem Verbleib Nordirlands in der Zollunion entspräche dem vorliegenden Austrittsvertrag. Dem Wunsch von Johnsons Vorgängerin Theresa May entsprechend sah dieser sogar den Verbleib des gesamten Königreiches in der Zollunion vor, bis für die innerirische Grenze neuartige technische Regelungen gefunden seien. Diese gibt es selbst überzeugten Brexiteers zufolge bisher nicht.

Stirnrunzeln bei EU-27

In Brüssel war man bezüglich der angeblichen Äußerungen Merkels skeptisch, da diese nicht der intern abgestimmten Linie entsprechen. Am Montag hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron signalisiert, eine Einigung müsse bis Ende der Woche vorliegen. Tatsächlich ist ein zeitlicher Puffer vor dem EU-Gipfel in neun Tagen für die EU-27 unabdingbar. Downing Street hatte stets suggeriert, man könne notfalls bis zum Gipfeltag selbst verhandeln.

Noch ehe Johnsons PR-Team um Chefberater Dominic Cummings dem Lieblingsgegner Deutschland die Schuld in die Schuhe zu schieben versuchte, machte ein dem konservativen Magazin Spectator zugespieltes Memorandum aus der Downing Street Furore. Darin wird die parlamentarische Opposition für das Brexit-Scheitern verantwortlich gemacht: Wegen des sogenannten Benn-Gesetzes, das den No-Deal-Brexit verhindern soll, habe Irlands Premier Varadkar seine Verhandlungsbereitschaft aufgegeben. Sollte Johnson beim EU-Gipfel tatsächlich um weiteren Aufschub bitten müssen, droht das wohl von Cummings verfasste Schriftstück der EU mit "unkooperativem Verhalten" und einzelnen Mitgliedsstaaten – gemeint sind wohl die baltischen Anrainer Russlands – mit Absage an die gemeinsame Sicherheitspolitik.

Schuldzuweisungen

Mit undiplomatischer Klarheit mischte sich der scheidende EU-Ratspräsident in die Debatte ein. Es gehe nicht "um blöde Schuldzuweisungen", schrieb Donald Tusk auf Twitter, sondern um die gemeinsame Zukunft. Offenkundig ist man in der Downing Street aber anderer Meinung. Mit der Schuldzuweisung an die EU-Verbündeten und an die Opposition legt Johnsons Minderheitsregierung nach eigenem Bekunden die Grundlage für einen Brexit-Wahlkampf im Spätherbst. Um die Brexit Party zu marginalisieren und möglichst viele Austrittswähler hinter sich zu vereinen, heißt es in der Cummings-Note, werde man den Chaos-Brexit zum offiziellen Programm erheben.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli sieht nach einem Treffen mit Johnson keinen Fortschritt in der Brexit-Causa. Johnson habe vage Antworten auf seine Fragen zum Erhalt der offenen Grenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland gegeben, sagt der Italiener. "Wir (das Europäische Parlament) werden keiner Vereinbarung zustimmen, die das Karfreitagsabkommen untergräbt und den Friedensprozess oder die Integrität unseres gemeinsamen Marktes preisgibt". Es gebe daher aktuell nur zwei Optionen: Eine Verlängerung der Brexit-Frist oder ein EU-Austritt der Briten ohne Abkommen.

Riskante Strategie

Politikstrategen zweifeln aber daran, dass die Tories mit stramm antieuropäischem Rechtskurs die ersehnte Mandatsmehrheit erlangen könnten. Zu einem Wahlsieg brauche es alle Gruppen innerhalb der Partei, glaubt etwa der frühere Vorsitzende William Hague, der dieses Prinzip bei der Unterhauswahl 2001 vernachlässigte und prompt – gegen die geeinte Labour Party von Premier Tony Blair – haushoch verlor.

Hohes Risiko gehen Johnson, Cummings und Co auch mit ihren Schuldzuweisungen ein. Zwar machen einer Erhebung der Firma Comres zufolge 83 Prozent der Briten die Blockadepolitik des Unterhauses für den möglichen EU-Verbleib über den 31. Oktober hinaus verantwortlich. Immerhin 56 Prozent und sogar drei Viertel der potenziellen Tories-Wähler sehen die Schuld aber auch bei Johnson. (Sebastian Borger aus London, 8.10.2019)