Das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz wurde besonders im rot-grünen Wien kritisiert. Die Stadt muss die Vorgaben des Bundes umsetzen. Wie viele andere Bundesländer wartet man eine VfGH-Entscheidung ab.

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Nein, die Reihenfolge war nicht gleich. Bundespräsident Alexander Van der Bellen nannte als oberste Priorität für die kommende Bundesregierung aus seiner Sicht den Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe. Für Sebastian Kurz kam dieser Punkt nicht an erster Stelle, aber auch er sprach am Montag, nachdem er den Regierungsbildungsauftrag erhalten hatte, davon, dass Österreich mehr tun müsse gegen den Klimawandel.

Werner Kogler und Sebastian Kurz haben einen schweren Weg vor sich.
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Zumindest rhetorisch signalisiert der ÖVP-Chef damit, dass er bereit ist, auf die Grünen zuzugehen. Und das nicht ohne Grund. Die FPÖ ziert sich und spricht davon, dass das Wahlergebnis kein Auftrag für eine Regierungsbeteiligung sei. Die SPÖ ist mit internen Querelen beschäftigt, und atmosphärisch scheinen zwischen Türkis und Rot ohnehin Welten zu liegen. Bleiben die Grünen, deren Parteichef Werner Kogler Kurz heute zu Sondierungsgesprächen trifft.

Spielraum beim Klima ...

Die Ökopartei hat im Wahlkampf voll auf Klimaschutz gesetzt, und hier scheint eine Annäherung in der Tat möglich. Ökonomen vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo empfehlen seit Jahren, klimaschädliche Subventionen wie das Steuerprivileg für Diesel zu streichen und Abgaben auf Emissionen zu erhöhen. Die Palette an möglichen Maßnahmen ist groß und damit auch der Spielraum für Kompromisse. "Beim Klimaschutz könnten ÖVP und Grüne so manche Stolpersteine allein dadurch aus dem Weg räumen, indem es zu einer Sprach- und Stiländerung kommt", sagt Politologe Peter Filzmaier. Sein Beispiel: Eine CO2-Steuer wäre ÖVP-Wählern schwer zu verkaufen, eine "Ökoabgabe" wahrscheinlich eher.

... und bei Migration

Ähnlich hält er auch in Migrationsfragen viel für möglich: "Niemand ist für illegale Migration, und niemand will Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Auch da könnte durch eine Abrüstung der Worte viel weitergehen." Wo es dann richtig schwierig wird bei ÖVP und Grünen? In der Wirtschafts- und Sozialpolitik, glaubt Filzmaier. Denn hier sind die ideologischen Gräben tief, "und es gibt unterschiedliche Vorstellungen der Parteien dazu, welche Rolle der Staat spielen soll". Auf Länderebene regieren Grün und Schwarz zwar miteinander. Doch das sei kein Problem, so Filzmaier, weil Zuständigkeiten für heikle Fragen meist beim Bund liegen.

In Wien ist der Widerstand gegen die neue Sozialhilfe besonders groß. Sozialstadtrat Peter Hacker wird von Protesten unterstützt.
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Oben auf der Liste der Themen mit Sprengkraft steht die Mindestsicherung. ÖVP und FPÖ haben in der Koalition ein neues Sozialhilfe-Grundsatzgesetz beschlossen. Dieses gibt Ländern einen Rahmen dazu vor, wie die Mindestsicherung, die wieder Sozialhilfe heißt, künftig auszusehen hat. Umstritten war die Kürzung der Sozialhilfe ab dem dritten Kind, für das es nur noch 43 Euro geben wird. Für das erste Kind gibt es 215 Euro, für das zweite Kind 129 Euro. Für Familien, die nicht gut Deutsch sprechen, gibt es ebenfalls weniger Geld, detto für subsidiär Schutzberechtigte.

Widerstand in Wien

Das Gesetz lässt den Ländern durchaus Spielraum – einen Teil der Kürzungen können sie auffangen, etwa indem höhere Wohnbeihilfen gewährt werden, doch lassen sich damit nicht alle Einschnitte auffangen.

Die rot-grüne Stadtregierung in Wien hat sich zudem festgelegt und auf das Gesetz eingeschossen. Fast 124.000 Menschen in Wien bekommen Mindestsicherung, das entspricht 40 Prozent der österreichweiten Bezieher. Die Grünen in Wien warnten, dass die Kürzung 40.000 Kindern "die Zukunft nimmt", die grüne Vizebürgermeisterin Birgit Hebein sagte, dass "Schwarz-Blau einen Lustgewinn daraus zieht, die Ärmsten der Armen zu schikanieren".

Die ÖVP-Führung hält ebenso entschlossen am Gesetz fest. Für die ÖVP geht es auch darum, den Leistungsgedanken zu stärken. ÖVP-Politiker von Kurz abwärts formulieren es so: Menschen, die hart arbeiten, dürfen am Ende des Monats nicht gleich viel oder weniger herausbekommen als jene, die Sozialhilfe beziehen.

Heikel für die Wiener Basis

Wie finden Grün und Schwarz da heraus? Verkomplizierend kommt hinzu, dass 2020 Landtagswahlen in Wien sind. Die Ausgangsposition der Grünen hat sich nach dem Comeback im Bund verbessert. Die Ökopartei hat in Wien 2015 11,8 Prozent der Stimmen geholt. Da wäre Potenzial nach oben. Doch die Stimmung könnte sich ändern, wenn die Grünen für eine Regierungsbeteiligung zwar Zugeständnisse beim Klimaschutz von der ÖVP bekommen, dafür aber in Sozialfragen leer ausgehen. Das wäre gefundenes Wahlkampffutter für die SPÖ.

Möglicherweise verbessert der Verfassungsgerichtshof die Chancen auf Türkis-Grün.
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Auf grüner Seite ist man sich der heiklen Situation bewusst. Die Devise dort lautet: Eine Einigung beim Klima allein werde nicht reichen, auch in der Sozialpolitik müsse sich etwas bewegen. Klar sei aber auch, dass man mit der ÖVP keine Vergangenheitsbewältigung betreiben kann, alte Gesetze also nicht umschreiben wird.

Höchstgericht als Ausweg?

Einen Ausweg könnte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) schaffen: Vom Bundesrat ausgehend gibt es eine VfGH-Beschwerde gegen das Sozialhilfegesetz. Ein Vorwurf lautet, dass die unterschiedlichen Beiträge für Kinder gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Der VfGH wird die Frage im Oktober behandeln, wann er entscheidet, ist offen. Sollte der VfGH Teile des Gesetzes aufheben, muss die nächste Regierung handeln. Ein Kompromiss wäre dann, den Ländern mehr Spielraum bei den Pro-Kopf-Beträgen zu geben.

Und die Kürzungen für Familien ohne gute Deutschkenntnisse? Eine Idee wäre, das zu belassen, aber parallel mehr für Integration auszugeben. Lösungen erscheinen also nicht unmöglich. Bleiben andere schwierige Sozialthemen, etwa die türkis-blaue Kürzung der Familienbeihilfe für Kinder im Ausland. Aber das ist eine andere Geschichte.
(András Szigetvari, 9.10.2019)