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Nachdem es in der aktuellen Rundschau gleich zwei Anlassfälle gibt, möchte ich hier kurz auf einen Begriff eingehen, der im englischsprachigen Rezensionslingo wie selbstverständlich gebraucht wird, aber vielleicht nicht allen deutschsprachigen Lesern geläufig ist: nämlich die Mary Sue. Benannt nach einer Protagonistin aus der "Star Trek"-Fanfiction, wird der Begriff auf eine idealisierte (Haupt-)Figur angewandt, die mit ihrem Universaltalent jedes Problem meistert, alle übrigen Protagonisten in den Schatten stellt und damit die Grenzen der Glaubwürdigkeit strapaziert. Besonders kritisch wird eine Mary Sue gesehen, wenn man argwöhnt, dass sich der Autor / die Autorin mit der betreffenden Figur identifiziert.

Madeleine "Max" Maxwell, die Hauptfigur von Jodi Taylors "The Chronicles of St Mary's"-Reihe, ist ein Paradebeispiel für dieses Konzept. Max hat immer die zündende Idee, macht die entscheidende Entdeckung, beweist den nötigen Mut und rettet nicht nur den Tag, sondern auch alle diejenigen, die ihr auf dem Papier an Können und Wissen eigentlich voraus sein müssten. Und dabei hat sie stets einen lockeren Spruch auf den Lippen – sympathisch will und soll sie ja auch sein. Wie gut dieses Kalkül aufgeht, hängt ganz davon ab, was man sich von der Lektüre erwartet.

Historiker auf Zeitreise

Die Grundidee für "Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv" und dessen Nachfolgebände dürfte Taylor in Connie Willis' preisgekrönter "Oxford Time Travel"-Reihe gefunden haben. Auch in Taylors Light-Version des Motivs geht es um ein universitäres Institut (konkret das St. Mary's Institut für Historische Forschung), das die Vergangenheit via Zeitreisen erkundet. Auf die dahinterstehende Technologie wird nicht eingegangen, was man aber nicht als Mangel betrachten muss. Zudem machen wir auf der Stricherlliste der literarischen Zeitreisesysteme einen Eintrag bei: "Zeitparadoxa kann es nicht geben, weil sich die Geschichte selbst gegen Veränderungen wehrt".

Einen originellen Einfall kann Taylor aber schon für sich verbuchen: Die "Pods", in denen man in die Vergangenheit geschickt wird, sind äußerlich wie unauffällige kleine Arme-Leute-Steinhütten gestaltet. Die fügen sich optisch nämlich in jedes Zeitalter ein.

Unterhaltsamer Auftakt

Seinen stärksten Abschnitt hat der Roman in den quirligen Anfangskapiteln, wenn die frischgebackene Archäologin Max aufgrund einer Empfehlung ihrer ehemaligen Lehrerin ins St. Mary's Institut eingeladen wird. Das erweist sich als betriebsam, unkonventionell (immer wieder mal lassen kleinere Explosionen bei den Nachbarn die Scheiben klirren) und ein bisschen abgeranzt. Kurz, Max fühlt sich von der ersten Minute an wie zuhause und lässt sich begeistert engagieren.

Es folgt die Phase der Ausbildung, und weil Taylor dabei so sehr aufs Gaspedal drückt, kommen all die altgewohnten Topoi, die darin unvermeidlicherweise auftauchen, gar nicht erst dazu, langweilig zu werden: Prüfungen, Stress, erste Einblicke in Geheimwissen und das Flechten von Beziehungen. Gut, am Ton merkt man Max nicht immer an, dass sie eigentlich eine Akademikerin in ihren 20ern ist und nicht eine kecke Schülerin, aber unterhaltsam sind diese Kapitel allemal. Sehr schön etwa, wie Max einen Plan austüftelt, um sich in einem Versteck vor einem zweiwöchigen Überlebenstraining in der Wildnis zu drücken – nur um am Ende festzustellen, dass alle anderen ebenfalls geschummelt haben und niemand, aber auch wirklich niemand sich jemals tatsächlich 14 Tage lang den Arsch in der Wildnis abgefroren hat.

Verpasste Chancen

Wenn dann tatsächlich die Trips in die Vergangenheit losgehen, wird's allerdings mau. Insgesamt machen diese eindeutig den kleineren Teil des Buchumfangs aus, zudem entsprechen die gewählten Ziele so ziemlich dem, was selbst beim kürzesten Brainstorming zum Thema Zeitreisen genannt würde: Bibliothek von Alexandria vor dem Brand? Check. T-rex-Schauen in der Kreidezeit? Check.

Halt, stop, warum reisen Historiker eigentlich zu den Dinosauriern? Und warum werden ihnen nicht wenigstens Biologen mitgegeben? So wird der enttäuschendste Trip in die Kreidezeit ever daraus. Max rattert zwar brav ein paar Dino-Namen runter, denkt aber nicht einmal daran, die Fragen zu beantworten, die jetzt jedem auf der Zunge liegen: Welche Farben haben die Dinos?? Und tragen sie Federn??? Du siehst sie gerade, sag es uns doch!!! Aber nein, sie geht nur kursorisch auf ihre Dokumentationstätigkeit ein – stattdessen dreht sich das Kapitel darum, wie sich Max mit einem Kollegen entzweit, nachdem der sie sexuell belästigt hat.

Ein bisschen dies und das

Die Britin Jodi Taylor kommt ursprünglich aus dem Selfpublishing und hat die dort weitverbreitete Vielschreiberei in beachtliche Höhen getrieben: 15 Romane und drei Kurzgeschichtensammlungen seit dem Karrierebeginn 2013! So etwas funktioniert nur, wenn man für sich die richtige Formel gefunden hat. Ihre lautet: ein bisschen Science Fiction, ein bisschen Fantasy (taucht hier etwas überraschend im Schlussabschnitt auf), ein bisschen historisches Setting, ein bisschen Romance.

Ist das unterhaltsam? Ja. Primär allerdings für Leser, die ein bisschen Spaß, ein bisschen Spannung, ein bisschen Liebe und ein bisschen Sex normalerweise in anderer Literatur finden und sich das Ganze zur Abwechslung mal mit einem SF-Hintergrund gönnen wollen. Wer an Taylors flapsigem Erzählstil Gefallen gefunden hat, kann sich jedoch vergnügt die Hände reiben: Seit diesem Roman sind bereits neun weitere Bände mit Miss Maxwells Abenteuern erschienen.