In Österreich stehen in der Psychiatrie 65 Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung.

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1,2 Millionen Menschen in Österreich sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Bei ihrer Versorgung besteht jedoch großer Aufholbedarf, kritisiert der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) und fordert auch mittels Petition (Pflaster für die Seele) ausreichend Behandlungsplätze sowie die klinisch-psychologische Behandlung als Kassenleistung.

Das Wissen in der Bevölkerung sei nach wie vor viel zu gering – die Scham, über die Erkrankung zu sprechen aber umso größer, sagt BÖP-Präsidentin Beate Wimmer-Puchinger. Zu den häufigsten Ursachen für psychische Erkrankungen zählen frühe Traumatisierungen, schwere körperliche Erkrankungen, Lebens- und Beziehungskrisen sowie körperliche oder seelische Gewalt.

Nicht nur das Leid, auch die volkswirtschaftlichen Kosten sind enorm, laut Schätzungen liegen sie jährlich bei zwölf Milliarden Euro. Psychische Erkrankungen sind für zwei Drittel aller Frühpensionen verantwortlich (53 Prozent bei Frauen, 31 Prozent bei Männern), besonders häufig sind Depressionen und Angststörungen.

Neue Armutsfalle

Doch in der Versorgung gibt es große Lücken, so Wimmer-Puchinger. Menschen mit geringem Einkommen sind davon besonders betroffen. "Es gibt viele gut ausgebildete Psychologen, doch die Bevölkerung kann sie sich nicht leisten, weil es keine Kassenleistung ist", so Andrea Birbaumer von der Gesellschaft kritischer PsychologInnen. Psychische Erkrankungen seien die neue Armutsfalle. Auf einen psychiatrischen Kassenplatz müsse man heutzutage rund drei bis vier Monate warten, weiß Johannes Wancata, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.

Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte bereits vor einem Anstieg psychischer Erkrankungen. Alleine bedingt durch die ständiger Erreichbarkeit und die immer größeren Verantwortlichkeiten im Berufsleben, steige das Risiko, so Birbaumer.

Auch Kinder betroffen

Aber nicht nur Erwachsene, auch immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Angststörungen oder Suizidgedanken. Auch hier ist die Versorgung mangelhaft. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien ortet einen Mangel an diagnostischen und therapeutischen Angeboten sowie an Betten und Kassenverträgen. Dadurch könnten leichte zu schweren Erkrankungen werden und innerhalb von Wochen heilbare Krankheiten zu chronischen Krankheitsverläufen. Etwa wenn Minderjährige mangels Bettenkapazitäten auf Erwachsenenstationen untergebracht werden, steige dadurch das Gewalt- und Gefährdungspotenzial.

Ein Schul- und Ausbildungssystem, das auf soziale Selektion ausgelegt sei, Armutsgefährdung der Eltern sowie beengter Wohnraum sind mögliche Ursachen, hinzu komme eine Zunahme von sozialem Stress und Erholungsmangel. Laut Kinder- und Jugendanwaltschaft sind in Österreich rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen.

"Es kann nicht sein, dass wir psychisch kranke Kinder und Jugendliche dermaßen im Stich lassen", kritisiert Kinder- und Jugendanwältin Dunja Gharwal. Wartezeiten auf eine Rehabilitationsmaßnahme von bis zu zwei Jahren seien kinderrechtlich hoch problematisch. "Letztlich wird der Versorgungsmangel noch größer, weil sich die Dauer der Behandlungen erhöht und so die knappen Ressourcen erst recht nicht ausreichen."

Immer weniger Betten

EU-weit stehen in der Psychiatrie – für Erwachsene und Kinder – durchschnittlich 69 Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung. Insgesamt machen diese 14 Prozent aller Spitalsbetten aus, heißt es von Eurostat unter Berufung auf aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2017. Im Vergleich zu 2007 sei dieser Anteil um neun Prozent gesunken.

Damals standen laut der Statistikbehörde noch 76 Betten pro 100.000 EU-Bürgern zur Verfügung. Die Situation sei jedoch EU-weit sehr unterschiedlich: Belgien hatte 2017 mit 136 Spitalbetten für psychiatrische Betreuung die höchste Rate, gefolgt von Deutschland (128) und Lettland (125). Die wenigsten Betten stehen in Italien (9) zur Verfügung, Zypern (21) und Irland (34) liegen auf Platz zwei und drei. Österreich liegt mit 65 Betten unter dem EU-Durchschnitt.

Großer Eingriff

Nicht immer sind Menschen freiwillig bereit, sich behandeln zu lassen. Im Jahr 2018 mussten laut einer Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie 17.800 Personen zwangsweise in der Psychiatrie untergebracht werden. Damit haben sich diese Fälle seit 1991 verdreifacht. Gestiegen ist vor allem auch die Zahl jener Patienten, die nur ein bis drei Tage in der Psychiatrie bleiben, was darauf schließen lässt, dass die Einweisung nicht immer nötig war.

"Eine zwangsweise Unterbringung in der Psychiatrie kann potenziell jeden Menschen treffen und bedeutet einen großen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte", sagt der Rechtswissenschafter Walter Hammerschick, Mitautor der Studie.

Wer bei "Unterbringungen ohne Verlangen" (so die Bezeichnung im Gesetz) aber an spektakuläre Vorfälle von Gefährdungen anderer Personen denkt, irre mehrheitlich: Häufiger liege eine Selbstgefährdung vor, beispielsweise bei suizidgefährdeten Personen oder aus einem "Selbstfürsorgedefizit", bei dem Menschen sich nicht mehr adäquat um sich selbst kümmern können.

Ein Teil des Anstiegs der Einweisung sei auf ein gestiegenes Rechtsbewusstsein zurückzuführen und darauf, dass die Zuständigen sich absichern wollen, um für eine ausgebliebene Einweisung nicht verantwortlich gemacht zu werden. Häufiger Grund seien auch fehlende alternative Betreuungsplätze und betreute Wohnungsangebote, die oft günstiger sind als ein Platz in der Psychiatrie. In manchen Regionen gibt es zudem zu wenig Ärzte, dort bringt dann die Polizei häufig Personen mit "Gefahr in Verzug" in die Psychiatrie. (APA, 10.10.2019)