Pierre Bonnard: Akt in einem Interieur

Foto: Studio A

Auf den ersten Blick ist die Situation klar: Eine nackte Frau steht in einem Türrahmen, nur ihr Arm ist zu sehen, mit dem sie ihre Haare nach oben hält, sonst ein Bein und eine Brust. Doch betrachtet man das Bild länger, verschwimmt die Perspektive, der Raum zerfällt in Flächen und Muster. Da ist das satte Senfgold der Blumentapete, der lila-rote Fußboden, bläuliche Flächen am linken Bildrand. Und plötzlich – auf den zweiten Blick – ist die Situation eine andere. Steht die Frau nicht in einem Türrahmen, sondern vor einem Spiegel? Was ist Spiegelbild und was real?

Flimmernde Tiefe

Das Gemälde Akt in einem Interieur (um 1935) ist das erste, das man erblickt, sobald man die Ausstellung Pierre Bonnard. Die Farbe der Erinnerung im Wiener Kunstforum betritt, und es macht sofort klar, dass der Spätimpressionist Pierre Bonnard wenig von klassischer Raumtiefe und der Zentralperspektive hielt und umso mehr Wert auf Farbintensität und flimmernde Flächen legte.

1867 südwestlich von Paris geboren, feiert er erste künstlerische Erfolge im Kreis der Nabis – einer Künstlergruppe, der auch Paul Gauguin angehörte und die, von japanischem Farbholzschnitt inspiriert, die westliche Raumauffassung infrage stellte. Bonnard ist von jener Denkweise tief beeindruckt, die sein gesamtes Werk beeinflusst wird – er fordert seine Betrachter zu einer neuen Form des Sehens auf.

Pierre Bonnard: Der Mann und die Frau
Foto: Photo RMN - Tony Querrec

Rätselhaft, zeitaufwendig

Gemeinsam mit der Tate London und der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen widmet das Bank-Austria-Kunstforum mit einer großangelegten Retrospektive dem hierzulande eher unbekannten Bonnard dessen erste Ausstellung in Österreich. Dass es dafür höchste Zeit sei, betont die Kuratorin Evelyn Benesch, die sich schon seit Jahren mit dem französischen Künstler beschäftigt. Sie spricht von einem rätselhaften Maler, dessen Werke vor allem eines brauchen: Zeit. Auch Bonnard selbst nannte das Kunstwerk "ein Innehalten der Zeit".

Durch eine Türflucht der Ausstellungsräume blickt man durch ein geöffnetes Fenster direkt auf die Seine. Auch hier braucht es mehrere Augenblicke, bis sich die Details des Bildes erschließen: Am rechten Rand steht eine Figur in einem offenen Türrahmen (diesmal wirklich), und am Tisch sitzt ein kleiner Hund, den Bonnard auch in anderen Bildern versteckt. Den Ausblick und die Landschaft um das Haus wird der Künstler auch noch öfter malen, denn 1926 zieht er mit seiner Frau Marthe de Méligny an die Côte d’Azur. Bereits 1909 hatte Bonnard Südfrankreich besucht und war von dem dort herrschenden Licht so fasziniert, dass er es zeitlebens versuchen wird einzufangen.

Pierre Bonnard: Die Schale Milch
Foto: Sam Drake

Zwischen innen und außen

Folgt man der – nicht streng – chronologisch geordneten und klassisch arrangierten Schau, die auch Fotografien des Malers zeigt, findet man sich irgendwann vor rahmenlosen Gemälden in einem zartgrünen Raum wieder. So soll die Arbeitsweise des Künstlers sichtbar werden, der seine Leinwände mit Reißnägeln direkt an die Wand heftete.

Auf einer davon sitzen zwei Figuren an einem Tisch, der zu flimmern scheint, die Tür zum Garten steht weit geöffnet. Dieses Dazwischen zeichnet sich als wichtiges Merkmal in Bonnards Kunst ab, da sich seine Situationen stets zwischen innen und außen abspielen. Auch Figuren werden abgeschnitten und Gesichter gar nicht gezeigt oder verwischt.

Malen aus der Erinnerung

Die Melancholie hinter der Alltäglichkeit wird deutlich. Bonnard inszeniert sich, obwohl er seine Kunst bereits früh und international ausstellt und mit Künstlern wie Henri Matisse befreundet ist, gern als Einzelgänger. Nach Marthes Tod zieht er sich zurück. Bonnards Motive sind immer dieselben: der Blick ins Grüne, glitzerndes Wasser, geöffnete Fenster und weibliche badende oder sich waschende Akte, die sich alle sehr ähnlich sehen – es ist immer seine Frau Marthe. Jedoch malte der Künstler nie nach dem realen Motiv, sondern bloß aus seiner Erinnerung.

Dass er Angst davor hatte, das Motiv würde ihn überrollen, verdeutlicht, wie nebensächlich die Objekte für ihn waren. Vielmehr schöpfte er jene erst aus der flimmernden Farbe. So schälen sich Wellen und Strandschirme in Die Terrasse im Sonnenlicht (1939–1946) im letzten Raum der Schau erst langsam aus zartem Türkis und drückendem Orange und Dunkelrot. Dass rechts eine Figur durch ein Fenster zu sehen ist, sieht man auf den zweiten Blick. (Katharina Rustler, 10.10.19)