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Eintauchen ins Wien der Nachkriegszeit: Das bietet Bert Rebhandls Buch über den Filmklassiker "Der dritte Mann".

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Wussten Sie, dass Graham Greene zwischen den Weltkriegen als Filmkritiker gearbeitet hat? Dass der Zitherspieler Anton Karas in einem Wiener Hotelzimmer während einer Art Casting-Sitzung stundenlang vorspielen musste, vor auf dem Boden sitzenden und Pfeife rauchenden Engländer? Oder dass die Produktionsgeschichte von Der dritte Mann die Auseinandersetzung zweier Filmkulturen – der aus Hollywood kommende detailbesessene und kommerziell orientierte David O. Selznick trifft auf ein künstlerisch denkendes europäisches Team – erzählt?

Keinesfalls sollte man das sorgfältig recherchierte Buch Der dritte Mann – Die Neuentdeckung eines Klassikers jedoch als bloße enzyklopädische Annäherung verstehen. Eher nutzt der für diese Zeitung schreibende Filmkritiker Bert Rebhandl seine Fakten, um abzuheben, abzudriften. Er begibt sich auf die Suche nach den vor, zwischen und hinter den Filmszenen liegenden historischen, zeitgenössischen und aktuellen Bildern. Man könnte auch sagen, dass hier ein Autor sehenden Auges geschrieben hat und damit eine ähnliche Bewegung vollzieht wie der Schriftsteller Graham Greene. Im Vorwort zu Der dritte Mann betont Greene, dass sein Krimi nicht geschrieben worden sei, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden.

Thema der unsichtbaren Grenzen

Mit einer schönen "Lust am Sehen" beginnt Rebhandl und lädt im "Vorspann" zu einem etwas anderen Spaziergang entlang der Schauplätze von Carol Reeds Film ein, veranschaulicht anhand der Bahnhöfe die Historie von Wien – einer Stadt mit Kopfbahnhöfen, die man eben nicht nur durchquert, sondern in der die Strecken enden.

Über diese Strecken sind die alliierten Siegermächte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die österreichische Hauptstadt gelangt und erst einmal geblieben.

Mit den Beschreibungen wird das vom Krieg versehrte und in vier Besatzungszonen geteilte Wien in Erinnerung gerufen. Als Ort, der in sich noch die Spuren monarchischer Bedeutung trägt und eines Europas, das man einst mit dem Schlafwagen bereiste. 1948/49 ist die Stadt längst noch nicht in der neuen Gegenwart angekommen. Eben diesen Um- und Zustand wollte sich der aus Hollywood nach London zurückgekehrte Produzent Alexander Korda zunutze machen, als er die Idee für einen Film in Wien mit dem Thema der unsichtbaren Grenzen entwickelte.

Das Kapitel "Eine andere Welt" skizziert die Produktionsgeschichte des Klassikers und damit auch den Zustand eines nach dem Zweiten Weltkrieg darniederliegenden europäischen Filmmarkts. Ganz beiläufig entsteht auch das Porträt des ungarischen Juden, Weltbürgers, Produzenten und Regisseurs Alexander Korda, dessen vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Filme übrigens von Graham Greene stets scharf kritisiert wurden.

Die bewussten und unbewussten Bereiche einer Gesellschaft

Braucht diese aus den Fugen geratene Stadt nicht auch eine neue Melodie? Und wie schaut es mit den Befindlichkeiten ihrer Bewohner aus? Die Kapitel "Dadadadada dada" bzw. "Schlechte Staatsbürger" sind komplexe Betrachtungen einer tiefen Verunsicherung des Umgangs mit der Geschichte und ihrer Verdrängung. Vom eingängigen Dreivierteltakt des Donauwalzers zur bedrohlichen und fast schon monotonen Zithermusik, die die dunkle Seite der Stadt betont. Anhand einzelner Filmszenen und mit großer Sensibilität für Details dringt Rebhandl in die bewussten und unbewussten Bereiche einer Gesellschaft vor, reflektiert etwa mit der Figur der Zimmerwirtin von Harry Lime die Sehnsucht nach unmöglich gewordenen historischen Anschlüssen und zeigt, wie eine rückwärts gerichtete Haltung den Weg in eine freiere Zukunft von vornherein versperrt.

Das bewusste Mäandern ist das Prinzip dieses Buches. Fakten, historische Zeugnisse, Anekdoten werden gleichrangig behandelt. Jedes der essayistisch gehaltenen Kapitel steht für sich, sodass es auch als pointiertes Nachschlagewerk funktioniert.

So entsteht eine interpretatorische Offenheit, die sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart der Stadt nicht erstarren lässt. Das expressionistische Spiel mit Licht und Schatten, das Carol Reeds Film so gekonnt wie perfide betreibt, handelt nicht von einem abgeschlossenen Kapitel europäischer Geschichte. Vielmehr leben die Motive und Themen von Der dritte Mann in neuer Gestalt fort. (Anke Leweke, 10.10.2019)